Welthungerhilfe-Regionaldirektorin Elke Gottschalk spricht im Interview über die Arbeit in Afghanistan zwei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban funktioniert.
InterviewWelthungerhilfe: „Wir müssen in Afghanistan mit den Taliban zusammenarbeiten“
Elke Gottschalk ist Regionaldirektorin Asien/Südamerika der Hilfsorganisation Welthungerhilfe. Damit ist sie auch für Afghanistan zuständig.
Frau Gottschalk, Sie waren gerade in Kabul. Welche Eindrücke haben Sie mitgenommen?
Elke Gottschalk: Das ist ein völlig anderes Afghanistan als das, was ich zwischen 2014 und der Machtergreifung der Taliban kennengelernt habe. Früher spürte man stets eine angespannte Sicherheitslage, es war eine bedrohliche Situation. Da waren überall Militär- und Polizeisperren, gepanzerte Fachzeuge rasten umher und Hubschrauber kreisten über den Köpfen. Doch nun: Wenn sie aus dem Flughafen kommen, ist es sehr ruhig und es herrscht ein entspanntes Treiben in der Stadt. Auch die Taliban haben Kontrollposten besetzt, doch meistens sind die Männer mit ihren Smartphones beschäftigt.
Was spielt sich auf den Straßen ab?
Ich hatte erwartet, kaum Frauen zu sehen – und wenn, dann in Burkas. Aber das stimmt nicht. Auf den Straßen waren viele Frauen unterwegs, allein und in Gruppen, oft ohne männliche Begleitung. Die meisten tragen keine Burka, sondern einen Hidschab. Ich habe sogar eine Frau mit einem gelben Kopftuch gesehen. Beeindruckend, wie die Frauen zeigen, dass sie sich nicht aus dem öffentlichen Leben vertreiben lassen. Aber Kabul steht leider nicht für ganz Afghanistan. Wie mir meine Kolleginnen berichtet haben, ist auf dem Land die Burka Standard.
Wie ist Versorgungslage der Bevölkerung?
Katastrophal. Nach Schätzungen der für die humanitäre Hilfe zuständigen Uno-Organisation OCHA können sich 90 Prozent der Bevölkerung nicht mehr gesund ernähren. Zwei Drittel sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Mitarbeitende haben erlebt, dass Mädchen in den Schulen vor Hunger ohnmächtig werden. Und die Lage wird schlimmer, denn die internationalen Geber ziehen sich wegen der frauenfeindlichen Politik der Taliban immer mehr zurück. Der von der Uno geschätzte Hilfsbedarf ist gegenwärtig nur knapp zu einem Viertel finanziert. Das heißt, dass überlebenswichtige Programme eingestellt werden müssen.
Welche Projekte haben Sie noch in Afghanistan?
Nach der Machtübernahme der Taliban haben wir unsere Hilfen sehr stark umstellen müssen. Während wir zuvor klassische langfristige Entwicklungsprojekte wie Bildungsprogramme betrieben haben, leisten wir mittlerweile zu 90 Prozent humanitäre Hilfe.
Das heißt konkret?
Zunächst haben wir Nahrungsmittel an bedürftige Familien verteilt und im Winter auch Heizmaterial wie Brennholz. Mittlerweile wurde die Unterstützung auf Bargeld umgestellt. Erstens wissen die Menschen selbst am besten, was sie brauchen. Und zweitens wird damit die heimische Wirtschaft gestützt. Schließlich funktionieren die Märkte vor Ort.
Wie sind Sie vor Ort vertreten?
Die Welthungerhilfe hat derzeit fünf internationale und 200 lokale Mitarbeitende, davon ein Fünftel Frauen. Wir haben trotz der Talibanherrschaft keine Mitarbeiterinnen entlassen müssen.
Wie haben Sie das geschafft angesichts des Verbots, wonach Frauen nicht mehr bei Hilfsorganisationen arbeiten dürfen?
Für uns war und ist völlig klar, dass wir Frauen benötigen, um Frauen erreichen zu können. Die Dekrete der Taliban kommen von der politisch-religiösen Führung und dem Emir in Kandahar. Theoretisch sollen die Ministerien in Kabul umsetzen, was die Führung in Kandahar beschließt, aber das tun sie nicht immer. Taliban ist nicht gleich Taliban. Das ist keine homogene Bewegung. Auch auf der lokalen Ebene besteht ein relativ großer Graubereich bei der Umsetzung.
Und wie funktioniert das dann praktisch?
Das ist immer wieder aufs Neue ein komplizierter Prozess des Aushandelns. Wenn es gut läuft, bekommen wir eine Genehmigung, dass an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort Frauen zum Beispiel bei der Verteilung von Hilfen mitarbeiten können. Die Zusage erfolgt aber immer nur mündlich, nie schriftlich. Allenfalls gibt es noch die Handynummer eines Talibanführers, bei dem man sich melden kann, wenn es Probleme gibt.
Haben Sie den Eindruck, die Taliban wertschätzen Ihre Arbeit?
Wertschätzung ist zu viel gesagt. Aber die Taliban haben erkennbar ein Interesse daran, dass ihre Bevölkerung Hilfe von außen bekommt, weil sie selbst dazu nicht die Mittel haben. Es wird von den Menschen in Afghanistan durchaus anerkannt, dass sich die Sicherheitslage verbessert hat. Aber sie fordern zu Recht eine funktionierende Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung. Und die Taliban wissen genau, dass sie von der Bevölkerung in die Pflicht genommen und zur Verantwortung gezogen werden, wenn sich die humanitäre Lage weiter verschlechtert - wonach es leider derzeit aussieht.
Wo können Sie noch helfen?
Projekte, die der Ernährungssicherung dienen, laufen weiter. Wir stellen Bäuerinnen und Bauern Saatgut, Dünger, Hühner, Futter und landwirtschaftliche Geräte zur Verfügung und unterstützen sie dabei, Getreide anzubauen und Gemüsegärten anzulegen. In „Cash for work“-Programmen bekommen Menschen Geld dafür, dass sie zum Beispiel Bewässerungssysteme wieder instandsetzen. Es geht mehr, als man vermuten kann. Wenn es sich um die gezielte Unterstützung von Frauen handelt, müssen wir allerdings kreativ sein.
In welcher Hinsicht?
Wie gesagt, wir können sie mit unserem Personal nur noch schwer erreichen. Deshalb haben wir zum Beispiel auf Video-Schulungen umgestellt. Statt Beraterinnen zu Frauengruppen zu schicken, was wir häufig von den Taliban nicht bewilligt bekommen, haben wir solarbetriebene Projektoren beschafft. Und bei Rückfragen der Frauen stehen unsere Mitarbeitenden am Telefon zur Verfügung.
Es ist verständlich, dass sich die internationale Gemeinschaft schwer damit tut, durch humanitäre Hilfe das Taliban-Regime auch noch zu stützen. Anderseits leiden die Menschen große Not. Wie kommt man aus dem Dilemma heraus?
Das Dilemma lässt sich leider nicht lösen. Für uns ist auf jeden Fall klar, dass humanitäre Hilfe nicht politisiert werden darf. Es ist in den vergangenen zwei Jahren immer wieder versucht worden, im Zusammenhang mit der internationalen Unterstützung Druck auf die Taliban auszuüben, ihre menschenverachtende Politik zu beenden. Doch davon haben die sich nun überhaupt nicht beeindrucken lassen. Insofern müssen wir im Interesse der Afghaninnen und Afghanen pragmatisch sein.
Das heißt konkret?
Der Westen muss mit den Taliban stärker ins Gespräch kommen. Es geht nicht darum, sie anzuerkennen. Aber ob wir wollen oder nicht: Wir müssen mit ihnen zusammenarbeiten. Das ist auch das, was uns unsere lokalen afghanischen Partnerorganisationen immer wieder sagen: Die Taliban sind an der Macht, und nun müsse man irgendwie mit ihnen klarkommen.
Was wünschen Sie sich in dieser Hinsicht konkret von der Bundesregierung?
Dringend nötig wäre eine Vertretung vor Ort. Keine Botschaft, aber die deutsche Regierung muss sich ein eigenes Bild von der Lage in Afghanistan machen. Und so wäre es auch leichter, Kontakte zu knüpfen, um einen Gesprächskanal zu den Machthabern zu etablieren. Für die notleidende Bevölkerung kann nur zusammen mit den Taliban etwas erreicht werden, nicht gegen sie. (RND)