Weltmeister Jürgen Kohler spielte erfolgreich für Borussia Dortmund, Bayern München und den 1. FC Köln. Im Interview äußert sich der 57-Jährige zum Titelkampf.
Weltmeister Kohler„Mir gefällt die Häme gegen Bayern überhaupt nicht“
Herr Kohler, Sie wurden als Spieler mit Borussia Dortmund Meister, mit dem FC Bayern ebenfalls und haben bekanntlich auch für den 1. FC Köln gespielt. Wem drücken Sie am letzten Spieltag die Daumen, ist das Meisterrennen schon entschieden?
Jürgen Kohler: Natürlich hat der BVB jetzt einen großen Vorteil. Ich würde mich auch sehr für den Klub, seine fantastischen Fans und die ganze Region freuen. Ein anderer Meister nach zehnjähriger Bayern-Dominanz wäre ja auch mal für die gesamte Bundesliga gut. Aber was mir derzeit überhaupt nicht gefällt, ist die Häme, mit der die Bayern übergossen werden. Man sollte nicht vergessen, dass sie es waren, die jahrelang die Fahne für den deutschen Fußball hochgehalten haben – und zwar weltweit. Und wo stünde die Bundesliga überhaupt ohne Bayern in der Fünfjahres-Wertung der Uefa? Da ist mir zu viel billige Polemik dabei. Dass die Bayern Fehler gemacht haben, wissen sie selbst ganz genau. Sie werden das genau analysieren und auch Klartext reden müssen. Sie stehen wohl auch vor einem Umbruch, der Probleme mit sich bringt – das ist vielen Top-Klubs in Europa in den letzten Jahren widerfahren.
Bereits im vergangenen Sommer haben Sie sich festgelegt, dass der BVB der Favorit auf die Meisterschaft sei und die Bayern größere Probleme bekämen. Fühlen Sie sich bestätigt?
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Darum geht es nicht. Ich bin auch kein Orakel, meine Einschätzung hatte mit gesundem Menschenverstand, viel Erfahrung und dem Austausch mit einigen Leuten aus der Branche zu tun. Ich weiß, wie eine Mannschaft funktionieren kann – und wie eben nicht. Ich war bereits im Sommer der Meinung, dass sich die Borussia sehr gut und besser als die Bayern verstärkt hat. Vor allem Sébastien Haller ist für mich ein Top-Einkauf. Ich bin mir sicher, dass für Borussia schon die Vorrunde anders gelaufen wäre, wenn Haller nicht so schwer erkrankt wäre. Er hat seine großartigen Qualitäten vor dem Tor in den vergangenen Jahren mehrfach bewiesen. Ich freue mich sehr für Sebastian Kehl (BVB-Sportdirektor, d. Red.), mit dem ich 2002 ja noch selbst zusammen Meister geworden war, dass in seiner ersten Saison als Hauptverantwortlicher die meisten seiner Transfers so eingeschlagen haben.
Die Bayern dagegen haben mit dem Weggang von Robert Lewandowski und der Verletzung von Manuel Neuer absolute Säulen verloren, die sie nie ersetzen konnten. Roberts Klasse vor dem Tor fehlt an allen Ecken und Enden. Und Manuel hat nicht nur das Torwartspiel revolutioniert und geprägt, sondern er hat auch ein enormes Standing in der Kabine. Zudem war ich von Transfers wie von Gravenberch, Mazraoui und Blind nicht wirklich überzeugt.
Der Trainerwechsel von Julian Nagelsmann auf Thomas Tuchel ist gänzlich verpufft.
Aufgrund der Ergebnisse ist das sicherlich der Fall, aber da will ich keine Ferndiagnose abgeben. Fakt ist, dass bei Bayern schon seit drei, vier Jahren nicht mehr alles rund läuft. Das fing unter Trainer Niko Kovac bereits an, sein Nachfolger Hansi Flick hat das dann mit seiner Art und Menschenführung hervorragend gemacht und dies mit den großen Erfolgen noch überdeckt. Doch die große Dominanz, die Bayern lange Zeit ausstrahlte, ist jedenfalls schon seit geraumer Zeit weg.
In Dortmund rüstet sich jeder für die Titelfeier, aber noch ist der BVB nicht Meister, der letzte Schritt fehlt noch. Sehen Sie noch die Gefahr, dass gegen Mainz etwas schiefgehen könnte?
Ein Restrisiko besteht immer. Die Borussen müssen die Situation richtig einschätzen, aber ich denke, das werden Trainer Erdin Terzic und die Mannschaft auch. Sie werden das schaffen. Die Saison war wahrlich nicht perfekt, noch Anfang April nach dem Pokal-Aus in Leipzig habe ich mir gedacht, dass ich selten einen so schwachen und harmlosen BVB gesehen habe. Aber Edin hat an den richtigen Stellschrauben gedreht und trifft den Nerv der Spieler. Die Mannschaft steht jetzt defensiv besser und hat zwölfmal zu null gespielt – wann gab es das zuletzt? Die Defensive war ja zuletzt immer die große Baustelle des BVB. In den letzten Wochen kamen dann immer mehr die Ergebnisse dazu. Das macht was mit einer Mannschaft. Und die Dortmunder haben registriert, dass Bayern zwar auch mal Schalke 6:0 schlägt, aber dann auch wieder ungewohnte Schwächen zeigt. Ich glaube, erst seit ein paar Wochen glauben die Dortmunder ernsthaft an den Titel – jetzt aber richtig. Jetzt sind wir ohnehin in einer Phase angekommen, in der Charakter Qualität schlägt.
Was trauen Sie Ihrem anderen Ex-Klub 1. FC Köln gegen die Bayern zu?
Einiges. Ich rechne nicht mit einem lockeren Bayern-Sieg. Im Gegenteil: Das Spiel wird unangenehm für Bayern. Steffen Baumgart wird den FC gewohnt mutig und aggressiv einstellen. Und dann kommt da in Köln der Faktor Zuschauer dazu. Wenn der FC es schafft, mit einem null zu null in die Pause zu gehen, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass die Kölner das Spiel zu ihren Gunsten entscheiden werden. Bayern muss dann weit aufmachen, der FC ist konterstark. Und vielleicht kassieren die Bayern wieder ein Gegentor per Elfmeter, das war ja in der Liga schon achtmal der Fall.
Ist Baumgart der Faktor, warum der 1. FC Köln eine solide Saison spielt?
Ja, Steffen macht das schon sehr gut. Es macht Spaß, dem FC zuzugucken – auch wenn nicht immer alles klappt. Da ist kein Abwarten mehr, sondern das Team gibt Vollgas. Ich finde es gut, dass Steffen mit Eric Martel, Jan Thielmann oder Denis Huseinbasic auch junge Spieler gefördert und in die Mannschaft eingebaut hat. Aber Steffen weiß auch: Willst du auch mittel- oder langfristig Erfolg haben, brauchst du noch mehr Qualität und Erfahrung im Kader. Da muss man auch mal einen gestandenen Spieler verpflichten – wenn der FC dies nach der Transfersperre überhaupt darf.