Als erste afrikanische Mannschaft jemals sind die Marokkaner ins Halbfinale eingezogen, für ihren Kontinent ist das schon ein Sieg für sich. Doch das Land repräsentiert mehr, als nur Fußballgeschichte.
WM-HalbfinaleMarokko im Fußballrausch – „Der ganze Kontinent unterstützt euch“
Die Welt steht Kopf. „Unmöglich, nicht Marokkaner zu sein in dieser WM!“, schreibt „DZfoot“, Algeriens meistbesuchte Fußball-Website. Algerien ist Marokkos Nachbar und Intimfeind. Die Grenze zwischen beiden Staaten ist seit Jahrzehnten geschlossen. In den Köpfen verschwindet sie gerade, und sei es nur für diese WM, und sei es nur für diesen Mittwoch (14. Dezember), an dem die marokkanische Nationalmannschaft ihren Weg ins Finale fortsetzen möchte. So weit hat es noch kein afrikanisches und kein arabisches Team bei einer Fußballweltmeisterschaft geschafft. Und weil es beim Fußball nur um Fußball geht, kann in diesem Fall auch alte Feindschaft ruhen.
Dass das marokkanische Team am Samstag das portugiesische aus dem Wettbewerb kickte, nannte die kenianische Zeitung „Nation“ „a giant killing act“. Ihr Reporter in Doha beschrieb die euphorische Stimmung unter seinen afrikanischen Kollegen. „Dies ist Afrikas Sieg!“, habe ein Kameruner gejubelt und Luftsprünge vollführt, „in der Hitze des Augenblicks von jeder Professionalität verlassen“. Vor dem Spiel hatte die nigerianische Zeitung „Leadership“ den marokkanischen Nationaltrainer Walid Regragui zitiert: „Marokko wird einen ganzen Kontinent hinter sich haben. Das ist viel Energie in unserem Rücken.“ Und der Kameruner Ex-Fußballer Samuel Eto‘o twitterte bestätigend: „Der ganze Kontinent unterstützt euch.“
Marokko trägt Erwartungen ganz Afrikas auf seinen Schultern
Seit dem Sieg über Spanien und damit dem Einzug ins Viertelfinale dieser WM ist es zum Allgemeinplatz geworden, dass die marokkanische Mannschaft die Erwartungen ganz Afrikas und zugleich der gesamten arabischen Welt auf den Schultern trage (ohne sich von dieser Last sonderlich bedrückt zu zeigen). Die südafrikanische „Sunday Times“ aber schreibt: „Die Wahrnehmung Marokkos als ein Land, das sich mehr mit der arabischen Welt identifiziert oder sogar mit Europa als mit Afrika, hat die Animosität [gegen Marokko] von vielen in Subsahara-Afrika gesteigert.“
Wie viele die „vielen“ sind, vermag niemand zu sagen. „Die meisten Südafrikaner werden sicherlich die Beziehungskälte aufgeben, jetzt, wo eine afrikanische Mannschaft im Halbfinale steht, und auf- und abspringen und bei jedem Ballkontakt der Löwen schreien“, vermutet die „Sunday Times“ weiter und endet versöhnlich: „Die das Gegenteil tun, werden genauso viel Spaß haben.“
Jeden Spieltag stellen die Teestuben ihre Fernseher auf die Straße, die Menschen drängen sich auf den Bürgersteigen, viele bringen Stühle aus ihren Häusern mit, und wir schauen uns alle zusammen das Spiel an. Es ist wirklich wunderbar.
Den größten Spaß haben aber gerade die Marokkaner selbst. Im nördlichen Nachbarland Spanien verfolgt man das mit großem Neid und etwas Sympathie. Die Regionalzeitung „Diario de Mallorca“ lässt einen Spanier erzählen, der in der nordmarokkanischen Großstadt Nador lebt: „Jeden Spieltag stellen die Teestuben ihre Fernseher auf die Straße, die Menschen drängen sich auf den Bürgersteigen, viele bringen Stühle aus ihren Häusern mit, und wir schauen uns alle zusammen das Spiel an. Es ist wirklich wunderbar.“ Und falls sich die Nationalmannschaft den Titel holen sollte, „dann wird dieses Land einen Monat lang stillstehen“. Oder im Gegenteil: einen Monat lang feiern.
In Marokko hat der Monarch das letzte Wort
Die Euphorie nutzt dem König, Mohammed VI.. Marokko ist eine parlamentarische Monarchie, in der nicht das alle fünf Jahre gewählte Parlament, sondern der Monarch das letzte Wort hat. Die US-Organisation Freedom House gibt Marokko in ihrer globalen Freiheitsbewertung 37 von 100 möglichen Punkten. Zum Vergleich: Algerien wird mit 32, Tunesien mit 64, Libyen mit 9 Punkten bewertet – und Katar mit 25. „Teilweise frei“ nennt Freedom House die marokkanische Monarchie. Ganz unmöglich ist Kritik am König.
Fünf Monate dieses Jahres hat Mohammed VI. nicht in Marokko, sondern in Frankreich und dem afrikanischen Staat Gabun verbracht, schreibt Ignacio Cembrero, der bestinformierte spanische Journalist in Sachen Marokko. Gern nimmt Mohammed die aus Köln gebürtigen Brüder Azaitar mit auf Reisen, die Cembrero die „neue Familie“ des Königs nennt. Einer der Brüder, Abu Bakr Azaitar, ist ein erfolgreicher Mixed-Martial-Arts-Kämpfer, und seine Erfolge waren es, die ihm 2018 eine Audienz bei Mohammed einbrachten, womit die Freundschaft begann. Die Ehefrau des Königs, Lalla Salma, ist aus dem öffentlichen Leben Marokkos fast ganz verschwunden.
Unorthodoxer Lebenswandel des marokkanischen Monarchen
Was die Marokkaner vom unorthodoxen Lebenswandel ihres Monarchen halten, weiß man nicht, weil sie sich dazu vorsichtshalber nicht äußern. Als sich Mohammed aber dieser Tage in der Hauptstadt Rabat überraschend unters Volk mischte, zeigte sich das Volk begeistert.
Nach dem Sieg der marokkanischen Mannschaft über die spanische nach Elfmeterschießen am Dienstag vergangener Woche zog sich der König das Trikot der Atlas-Löwen (wie sich die Nationalspieler nennen) an und ließ sich im Geländewagen durchs feiernde Rabat fahren. Ihn empfingen Hochrufe und hochgereckte Telefone. Mag sein, dass der fußballerische Erfolg das Regime stärkt. Mag genauso gut sein, dass bald alles wieder vergessen ist.
Lebensumstände in Marokko nur mittelmäßig
Was die Marokkaner beschäftigt, wenn nicht gerade Fußball ist, sind ihre Lebensumstände, und die sind mittelmäßig. Mit einem kaufkraftgewichteten jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 9177 Dollar liegt Marokko laut der Weltbank auf Platz 123 von 192 erfassten Staaten – hinter den anderen afrikanischen Mittelmeeranrainern, aber vor fast allen anderen afrikanischen Staaten.
In Rabat, gerade dort, wo sich vergangene Woche der König seinen Untertanen zeigte, hatten zwei Tage zuvor rund 3000 Menschen „gegen Inflation und Unterdrückung“ demonstriert. „Der Fußball hat es geschafft, uns die wirtschaftlichen Enttäuschungen vergessen zu lassen“, zitiert die spanische Zeitung „El País“ die marokkanische Analystin Fatima Ouriaghli. Diese Tage seien „ein verzauberter Einschub in einen düsteren Kontext.“
Marokko kommt langsam voran
Düster heißt aber nicht hoffnungslos. Marokko kommt voran, allerdings langsam. Am Rande Rabats steht, kurz vor der Vollendung, der mit 252 Metern höchste Wolkenkratzer Afrikas. Spötter fragen, welche Firmen dort wohl einziehen sollen. Gegen beinahe jede gute Nachricht aus Marokko gibt es kritische Einwände, von denen sich König Mohammed nicht beeindrucken lassen will. Er möchte sein Land modernisieren, wofür der 252-Meter-Turm (der natürlich seinen Namen trägt) ein Symbol sein soll.
Unbestritten ist der Erfolg des 2007 eröffneten Container- und Fährhafens Tanger-Med, der seinem spanischen Gegenüber Algeciras Konkurrenz macht, und der benachbarten Renault-Fabrik. Ebenso unbestreitbar ist der gesellschaftliche Fortschritt, der sich an der Geburtenrate (der zusammengefassten Fruchtbarkeitsziffer) von 2,3 Kindern pro Frau ablesen lässt, was einer der niedrigsten Werte Afrikas ist.
Marokko hat das Zeug, ein Brückenstaat zu sein
Marokko kommt voran, könnte aber besser vorankommen, wenn es sich nicht selber im Wege stünde. Was die südafrikanische „Sunday Times“ kritisch über Marokko vermerkt – dass es sich angeblich mehr mit der arabischen Welt identifiziert oder sogar mit Europa als mit Afrika – lässt sich auch positiv wenden: Marokko hat das Zeug, ein Brückenstaat zwischen Europa, Afrika und der arabischen Welt zu sein.
Lange Zeit hielt es sich diesen Weg aus eigenem Antrieb verschlossen. 1984 trat es aus der Organisation für Afrikanische Einheit (OAE) aus, um erst 2017 wieder in den mittlerweile zur Afrikanischen Union umbenannten Bund einzutreten. Die Annäherung an den Rest des Kontinents war dem marokkanischen Regime weniger wichtig als seine Ansprüche auf die ehemals spanische Westsahara, die gegen den Willen Marokkos als eigenständiges Mitglied in die OAE aufgenommen worden war.
Marokko ist pragmatischer geworden
Mittlerweile ist Marokko pragmatischer geworden und übrigens auch erfolgreicher in seinem Ansinnen, dass die Westsahara von anderen Staaten als Teil Marokkos anerkannt werde. Die Konfrontation mit Algerien allerdings, der Schutzmacht der sahrauischen Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario, findet kein Ende. Offenbar ist nur der Fußball in der Lage, sie einmal zu überwinden, und sei es für ein paar Tage. Diese Tage des Glücks kann den Marokkanern, den Arabern, den Afrikanern niemand nehmen. Für die Marokkaner ist das Glück beinahe vollkommen: Vor kurzem hat es im schlimmsten Dürrejahr seit Jahrzehnten endlich wieder angefangen zu regnen.