Das ZDF mit den Studiogästen Christoph Kramer und Per Mertesacker sowie Sandro Wagner und Oliver Schmidt im Stadion lieferte einen starken Abend – auch wegen einer kontroversen Reportage aus Doha.
WM-Kolumne „Wir schauen hin“Das ZDF liefert einen starken WM-Abend
Zweites Gruppenspiel im ZDF also, und im Studio verbreiteten Christoph Kramer und Per Mertesacker trotz der prekären Lage der deutschen Elf viel Zuversicht. Die Weltmeister von 2014 halfen den Zuschauern damit durch die Anspannung vor dem Spiel gegen Spanien. Gerade Mertesacker war ja 2014 zu einem Gesicht des WM-Erfolgs geworden, als er einem ZDF-Mann nach 120 Minuten Kampf und einem nur mit äußerstem Glück überstandenen Achtfinale gegen Algerien das legendäre „Eistonnen“-Interview („Wat woll’n se von mir?“) gegeben hatte. Einen besseren Absender für Durchhalterhetorik konnte man sich also nicht vorstellen. Und indem er die deutsche Vierer-Abwehrkette korrekt vorhersagte, stellte Mertesacker auch noch seinen Sachverstand unter Beweis. Oder seine nach wie vor herausragenden Kontakte in den inneren Zirkel des DFB-Teams.
Dazu der muntere Fußballerklärer Christoph Kramer, bei dem man nie vergessen darf, dass er ja nach wie vor ein hervorragender Bundesligaspieler ist. Zwar ließ sich Anarchist Kramer zu teils haarsträubenden Theorien hinreißen, skizzierte etwa die Möglichkeit einer deutschen Dreier-Abwehrkette und wünschte sich, dass Deutschland die Spanier bei weniger als 50 Prozent Ballbesitz würde halten können. Das brachte ihm heitere Kritik seines sachlich-norddeutsch inszenierten Kollegen Mertesacker ein, die wiederum Kramer charmant konterte. Es war eine angenehme Atmosphäre im ZDF-Studio, und Moderator Jochen Breyer war klug genug, seine Gäste gewähren zu lassen – und ihnen sogar die Zeit zu geben, ihre Vorstellungen an einer echten Magnet-Taktiktafel zu präsentieren.
Früh war klar, dass aus Kramers Dreierkettenfantasie nichts wurde, und am Ball war Deutschland zunächst auch nicht. Hatten die Studiogäste noch Zuversicht verbreitet, fiel Oliver Schmidt und seinem Experten Sandro Wagner anschließend die Rolle zu, das tatsächliche Geschehen zu kommentieren. Wagner erklärte, man müsse die Unterlegenheit nun aushalten – und traf damit den Kern: Mit der Wahrheit lebt es sich ganz gut, wenn sie vom Experten ausgesprochen wird. Wagner und Schmidt klangen in der Anfangsphase, als kommentierten sie einen sehr komplizierten medizinischen Eingriff, bei dem längst nicht klar ist, ob der Patient überlebt. Allerdings taten sie das mit großer Akribie – und gerade Wagner tat sich mit einer Ehrlichkeit hervor, die nie ins Persönliche ging.
Als Antonio Rüdiger einen Abschluss probierte, gab Wagner eine spontane Kostprobe: „Ich hasse es, wenn Innenverteidiger aufs Tor schießen“, sagte er – als ehemaliger Topstürmer darf er das, ohne allzu arrogant zu wirken. Überhaupt überzeugte Wagner mit gutem Blick für die Details. So etwa, als Antonio Rüdiger plötzlich für Neuer den langen Abstoß übernahm – und einen feinen Fernpass auf Musiala spielte, für den Wagner nicht mit Lob sparte. Wagner brachte Süles Stellungsfehler beim 0:1 ebenso präzise auf den Punkt wie Musialas vergebene Großchance, die den ehemaligen Angreifer merklich verärgerte: Musialas Jugend sei keine Entschuldigung dafür, den Abschluss zu suchen statt den Mitspieler: „Den muss er auch mit zwölf rüberlegen.“
Spielverlauf, Anteile und Ergebnis standen schließlich in beinahe perfekter Kongruenz zu Wagners und Schmidts Analysen.
Im Studio wurde es nach dem 1:1 dann beinahe zu euphorisch: Kramer schien schon wieder eine Hand am WM-Pokal zu haben, als er vorhersagte, die deutsche Elf, mit nur einem Punkt nach wie vor Gruppenletzter, werde „weit kommen“ bei dieser WM. Doch ein bisschen Freude über ein gutes Resultat gegen die Spanier war ja durchaus erlaubt. Zum Schluss wurde im Studio gar ein Tweet zitiert, in dem ein Fan schrieb, er habe nun begonnen, die WM „zu fühlen“. Er habe im Studio gespürt, wie das Publikum mitgefiebert hatte, berichtete Per Mertesacker.
Schmerzhafte Bilder zur besten Sendezeit
Dennoch geriet nicht in Vergessenheit, was für eine WM da nach wie vor stattfindet am Persischen Golf. Vor dem Spiel hatte das ZDF noch einen bemerkenswerten Beitrag gezeigt: Mit versteckter Kamera hatte ein Team das Public Viewing in einem Kricketstadion vor der Stadt besucht, wo überwiegend afrikanische Arbeiter das WM-Aus der katarischen Mannschaft gegen Senegal feierten. Allein das waren bemerkenswerte Bilder. Allerdings filmten die Reporter auch, wie Gastarbeiter zum Blutspenden angeworben wurden, was offenbar ein überlebenswichtiger Zuverdienst ist – mehrere Männer berichteten verzweifelt, seit Monaten auf ihre Gehälter zu warten. Dass die Katarer also ihre unter unwürdigen Bedingungen angestellten Arbeiter nicht nur nicht bezahlen, sondern sprichwörtlich bis aufs Blut ausnutzen, war ein weiteres Puzzleteil, um das Wissen über die Bedingungen im WM-Gastgeberland zu vertiefen.
Der eigentliche Skandal kam dann fast nebenher: Eine katarische Organisation warb zusätzlich Organspender an – und zwar auch zur Lebend-Nierenspende. Mit Broschüren, die ausschließlich in englischer Sprache verfasst waren. Ein Mann erklärte, er habe sich angemeldet, weil er glaube, es gehe um das Spenden von Blut. Ein weiterer Abgrund, aufgedeckt mit versteckter Kamera und gesendet zur besten Sendezeit.
Den reinen Fußballbezug im Studio konnte sich das ZDF damit am Sonntagabend leisten.