Vor Australian OpenRumoren in der Tennis-Blase
Köln – Angelique Kerber, 33, fühlt sich plötzlich wieder wie ein Kind. Die in den vergangenen Jahren beste Tennisspielerin Deutschlands wollte sich in Melbourne auf die anstehenden Australian Open vorbereiten. Stattdessen hat sie derzeit keine Möglichkeit, ihrem Beruf nachzugehen. Weil auf ihrem Flug nach Melbourne ein Passagier mit dem Coronavirus infiziert war, befindet sich die dreimalige Grand-Slam-Turnier-Siegerin aktuell für 14 Tage in Quarantäne und darf ihr Zimmer nicht verlassen. „Ich fühle mich wie vor 20 Jahren, als ich als Kind Bälle gegen die Wand geschlagen habe“, sagt Kerber zu ihren eingeschränkten Bedingungen.
Fünf Jahre nach ihrem großen Triumph, als sie in der Rod Laver Arena ihren ersten Titel bei einem Grand-Slam-Turnier errang, schraubt Kerber die Ambitionen herunter. „Wenn ich raus aus der Quarantäne bin, dann habe ich ja noch ein bisschen, ein paar Tage wenigstens. Ich nehme die Australian Open als Herausforderung, aber diesmal ganz ohne Erwartungen“, sagte Kerber in einem Interview bei RTL. Die Zeit verbringe sie überwiegend mit Netflix schauen, Bücher lesen und Telefonaten mit Freunden. Zudem stünden ein oder zwei Workouts am Tag auf dem Programm, berichtete Kerber. Ihr Trainer Torben Beltz und ihr Physiotherapeut Timo Schall befinden sich ebenfalls in Quarantäne und dürfen keinen persönlichen Kontakt zu ihr haben. Von professioneller sportlicher Vorbereitung auf das erste Highlight des Tennisjahres kann keine Rede sein.
„Diese Leute haben keine Ahnung von Tennis, von Trainingsplätzen, keine Ahnung von irgendetwas“
So wie Kerber geht es in diesen Tagen 71 weiteren Profis und Mitgliedern des Betreuungsstabs. Auf einigen Charterflügen nach Melbourne hatte es Corona-Fälle gegeben. Alle anderen Profis dürfen zumindest für fünf Stunden am Tag zum Trainieren aus den Zimmern.
Das Rumoren in der Branche ist kaum überhörbar. Der Spanier Roberto Bautista Agut klagte, er fühle sich wie eingesperrt, hinter Gittern. „Genauso ist es. Diese Leute haben keine Ahnung von Tennis, von Trainingsplätzen, keine Ahnung von irgendetwas“, meckerte die Nummer 13 der Welt: „Deswegen ist es ein komplettes Desaster.“ Später entschuldigte er sich, das „private Gespräch“ sei ohne sein Wissen veröffentlicht und aus dem Kontext gerissen worden.
Mäuse bei Julia Putinzewa
Der kasachischen Tennisspielerin Julia Putinzewa machen in der Quarantäne Mäuse zu schaffen. Die 26 Jahre alte gebürtige Russin wechselte nach unerwünschtem Besuch das Zimmer – doch auch durch ihre neuen vier Wände flitzt wieder ein kleiner Nager. „Neuer Raum, alte Geschichte“, schrieb Putinzewa am Dienstag bei Twitter, an Schlaf sei nicht zu denken. Die Rezeption habe ihr nun mitgeteilt, dass das Hotel ausgebucht sei und sie nicht erneut umziehen könne: „Es ist ein Witz.“
Putinzewa gehört zu den Kritikern der strikten Quarantänemaßnahmen. „Warum hat uns nie jemand gesagt, dass das ganze Flugzeug isoliert werden muss, wenn eine Person an Bord positiv ist“, fragte sie in den Sozialen Netzwerken: „Ich hätte es mir zweimal überlegt, ob ich hierher komme.“
Craig Tiley beschwichtigt
Die Stimmung im Lager der Profis ist in der vergangenen Woche derart erhitzt, dass Craig Tiley, Turnierdirektor der Australian Open, mit Beschwichtigungen und Rechtfertigungen kaum hinterherkommt. Alle Maßnahmen wären im Vorfeld bekannt gewesen, antwortete Tiley auf Putinzewas Kritik und weiter: „Das ist der Preis, den unsere Gäste und jeder, der nach Australien kommen will, bezahlen muss.“
In der Tat sind auch dem Turnierdirektor rechtlich die Hände gebunden. Australien hat als eines der ersten Länder nach Ausbruch der Pandemie ein umfassendes Einreiseverbot für alle ausländischen Reisenden verhängt. Touristische Reisen sind grundsätzlich nicht gestattet. „Es gilt bei Einreise weiterhin die Pflicht zu einer 14-tägigen, im Regelfall kostenpflichtigen Hotel-Quarantäne in designierten Unterkünften am Ankunftsflughafen“, heißt es auf der Seite des Auswärtigen Amtes.
Novak Djokovic im Fokus
Eine Ausnahme für Tennisprofis gibt es nicht, auch wenn Forderungen danach in den vergangenen Tagen lauter geworden sind. Der Weltranglisten-Erste Novak Djokovic setzte sich an die Spitze der Bewegung und kritisierte die Quarantäne-Bedingungen für seine Kollegen in einem Brief an Tiley scharf. Ausgerechnet Djokovic also, der in der vergangenen Saison mit seiner Adria Tour ohne jegliche Hygieneregeln inmitten der Hochzeit der Pandemie für Kopfschütteln sorgte. Und der sich auch im Anschluss daran nicht als Geläuterter inszenierte, sondern auf seinem Standpunkt verharrte, dass die von ihm organisierte Tour mit zahlreichen Corona-Fällen doch eine gute Idee war.
Das Echo fiel entsprechend donnernd aus. Australische Medien stellten den Brief als bockig und egoistisch dar. Die Behörden wiesen die Forderungen nach Privilegien umgehend zurück.
Privilegien für elitären Kreis
Djokovic selber veröffentlichte daraufhin eine seitenlange Rechtfertigung in den sozialen Medien. Er habe sich lediglich für seine Kollegen einsetzen wollen, schrieb Djokovic, dies sei ihm aber fälschlicherweise als „selbstsüchtig, schwierig und undankbar“ ausgelegt worden, man habe seine „gute Absicht falsch verstanden“. Manchmal frage er sich, ob „ich mich nicht lieber zurücklehnen und meine eigenen Privilegien genießen soll, aber es ist nun mal meine Art, auch immer etwas für andere tun zu wollen.“
Privilegien gibt es für einen elitären Kreis in der Tat. Während sich der Großteil der Profis in Hotels in Melbourne aufhält, verbringen die Topstars Djokovic, Rafael Nadal, Dominic Thiem, sowie Serena Williams oder Naomi Osaka ihre Quarantäne in Adelaide – offiziell aufgrund des Platzmangels in den Hotels in Melbourne. „Das ist eigenartig für einen Sport, in dem alle dieselben Voraussetzungen haben sollten“, monierte der Franzose Jeremy Chardy in der Zeitung „L'Equipe“ die Sonderbehandlung, da die Stars vom separaten Fitnessbereich in ihrem Hotel profitieren würden. Außerdem haben die Zimmer dort haben unter anderem einen Balkon, anders als die drei Hotels in Melbourne. Und die Stars dürfen mehr Betreuer mitbringen.
Keine Lockerungen in Sicht
Turnierdirektor Tiley gerät sofort wieder in den Rechtfertigungsmodus. „Meine generelle Regel ist, dass wenn du zur Spitze des Spiels gehörst, ein Grand-Slam-Champion bist, dann ist es einfach die Natur des Geschäfts, dass du einen besseren Deal bekommst“, sagte Tiley. Weitere Privilegien würden den Topstars aber auch nicht zustehen.
Von mögliche Lockerungen sind die Profis in der strikten Melbourner Hotel-Quarantäne weit entfernt. Angelique Kerber hat die Hoffnung auf einen erfolgreichen Saisonstart beinahe schon begraben. „Ich habe die letzten zwei Monate so hart trainiert, wie schon lange nicht mehr. Es war eine der besten Vorbereitungen der letzten Jahre, in der ich mit viel Herzblut und Schweiß an meine Grenzen gegangen bin“, sagte sie: „Jetzt muss ich aber realistisch sein und mir eingestehen, dass ich nach zwei Wochen Quarantäne im Hotelzimmer nicht viel vom Saisonstart erwarten kann.“
Angelique Kerber: „Sport steht an zweiter Stelle“
Wie zermürbend eine strikte Quarantäne schon nach kurzer Zeit sein kann, haben im vergangenen Jahr allein in Deutschland viele Millionen Menschen erfahren müssen. Und in einer Sportart, in der die mentale Verfassung eine so große Rolle spielt wie im Tennis, fällt das aus sportlicher Sicht noch mehr ins Gewicht. Jeder Profi, der es in die Weltspitze oder zumindest in deren Nähe geschafft hat, erfüllt heutzutage die körperlichen Grundvoraussetzungen, um potenziell der Beste der Welt zu sein. Tatsächlich geschafft haben das in den vergangenen 16 Jahren im Herrentennis vier Spieler. Tennisspiele werden selten in den Beinen oder Armen entschieden, sondern im Kopf.
Kerber selbst weiß die Situation für sich einzuordnen und betont, dass momentan „viel wichtigere Dinge auf der Welt“ geschehen: „Millionen von Menschen kämpfen täglich mit den Folgen der Pandemie, und hier steht der Sport ganz klar an zweiter Stelle.“