Reiner Calmund, Leverkusens Manager-Legende, spricht über die famose Saison von Bayer 04, will aber das Wort Meisterschaft partout noch nicht in den Mund nehmen.
Manager-Legende Calmund„Sie kleiner Drecksack – man kann es ja mal versuchen!“
Reiner Calmund ist immer noch etwas nervös. Erstaunlich nervös. Das Wort Meisterschaft kommt ihm nicht über die Lippen. Nicht einmal bei 16 Punkten Vorsprung von Bayer 04 Leverkusen auf den Zweiten und nur noch sechs ausstehenden Bundesligaspielen. Die Fans der Werkself fiebern dem ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte regelrecht entgegen, er auch, aber der 75-Jährige meidet das„ M-Wort“ wie der Teufel das Weihwasser. Er sei da „ein gebranntes Kind“ und habe „schon zu viel erlebt“, sagt der langjährige Bundesliga-Manager, der von 1976 bis 2004 für Bayer 04 tätig war. Und vor allem rund um die Jahrtausendwende gleich mehrfach an Titelgewinnen haarscharf und auf den letzten Drücker vorbeigeschrammt war.
Im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ spricht der langjährige Bundesliga-Macher über die einzigartige Saison der Werkself und die Gründe für den Erfolg, blickt voraus und – etwas widerwillig – zurück auf alte Dramen.
Herr Calmund, sind Sie abergläubisch?
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Reiner Calmund: Ja, ich habe auch meine Rituale. Ich pflege sie, aber ich spreche nicht über sie.
Also haben Sie auch einen Talisman in der Tasche, wenn Sie am Sonntag zum Spiel Ihres langjährigen Klubs Bayer 04 Leverkusen ins Stadion gehen und vielleicht Zeuge der ersten Meisterschaft in der Vereinsgeschichte werden?
Das nicht, aber ich habe meinen jüngsten Enkel Kennet dabei – er ist ein glühender Bayer 04-Fan. Er soll zum Glücksbringer werden. Durch die letzten Ergebnisse ändere ich gerne meine ursprüngliche Planung. Ich wollte eigentlich erst gegen Ende der Saison wieder mit meiner Frau Sylvia und unserer jüngsten Tochter Nicha ins Stadion gehen – und zwar zu den Spielen in Frankfurt, am letzten Spieltag gegen Augsburg und natürlich zum DFB-Pokalfinale. Jetzt läuft es eben anders: Am Freitag und Samstag halte ich noch mit Wolfgang Bosbach Vorträge in Gotha und Greiz. Abends reise ich dann nach München, und am Sonntagvormittag bin ich zu Gast im „Doppelpass“. Und nach dem Rückflug nach Köln bin ich dann hoffentlich besonders pünktlich in der Bay-Arena. Natürlich fiebere ich dem Spiel mit jeder Phase meines Körpers entgegen.
Klingt recht stressig. Hat Bayer 04 Sie eingeladen?
Das muss der Verein gar nicht, die haben dankenswerterweise für mich immer ein Plätzchen reserviert. Und dieses Mal begleitet mich eben mein jüngster Enkel. Und Stress ist für mich ohnehin etwas anderes.
Aber können Sie das Spiel am Sonntag überhaupt genießen?
Genießen? Nein, leider überhaupt nicht. Ich bin bei den Spielen von Bayer heute noch nervöser als früher, obwohl ich damals in der Verantwortung stand. Selbst wenn wir führen, kann ich mich nicht entspannt zurücklehnen. Aber ich genieße in dieser Saison den Schlusspfiff und die Ergebnisse. Mit allem anderen werde ich mich aber erst auseinandersetzen, wenn das Thema rechnerisch perfekt ist.
Was heißt denn: „das Thema“? Wollen Sie das Wort Meisterschaft etwa nicht in den Mund nehmen?
Natürlich setzt man sich mit dem Thema auseinander, wenn man vor dem 29. Spieltag 16 Punkte Vorsprung auf den Zweiten hat. Bei einer Mannschaft, die bis jetzt noch kein Spiel verloren hat und von den letzten sechs Spielen nur noch eins gewinnen muss, würde jeder normal denkende Mensch sagen: Ja, Bayer 04 wird Deutscher Meister. Wenn du aber selbst jahrelang Manager von Bayer Leverkusen warst und häufig in den letzten Sekunden den einen oder anderen Titel unglücklich verpasst hast, wirst du natürlich vorsichtig. Da bist du ein gebranntes Kind und hast schon zu viel erlebt. Erst wenn es rechnerisch perfekt ist, sage ich: Glückwunsch! Dann bin ich sehr, sehr erleichtert und unwahrscheinlich glücklich. Dann darf auch die ganze Nacht gefeiert werden. Und dann genieße ich wirklich alles. Aber erst dann!
Was soll denn noch passieren?
Sie kleiner Drecksack! (lacht) Man kann es ja mal versuchen. Ich werde darüber nicht sprechen und auch nicht mehr darüber, wie wir 2000 die Meisterschaft am letzten Spieltag in Unterhaching noch verspielen konnten. Das ist vorbei, es zählen nur noch die Gegenwart und die Zukunft. Ende. Aus. Nikolaus.
Jetzt haben Sie aber selbst das Wort Unterhaching in den Mund genommen. Es ist schön da. Der Biergarten am Stadion ist toll.
Sie bohren ja weiter…(lacht). Wir sind nicht nur 2000 Vizemeister geworden, sondern auch 1997, 1999, 2002 folgte das Vize-Triple. Natürlich werde ich es nicht vergessen, wie in Unterhaching unseren besten Spielern, Michael Ballack und Emerson, an dem Tag gar nichts gelang und Micha, eigentlich unser Torgarant, mit einem Eigentor die Niederlage auch noch einleitete. Aber die alte Geschichte ist abgehakt.
Wenn Sie es sagen… Was ist bei Bayer 04 in dieser Saison anders als in den vergangenen?
Es fällt mir schwer, die vielen verdienstvollen Mitstreiter jetzt hier nicht alle nennen zu können. Aber ich möchte dann doch fünf entscheidende aktuelle Personen für den Erfolg hervorheben. Erstens: Fernando Carro (Bayer04-Geschäftsführer, d. Red.). Seine Verpflichtung vor sechs Jahren war ein absoluter Volltreffer. Er ist nicht nur in der Bundesliga absolut anerkannt, sondern vertritt die Interessen der Liga auch auf dem internationalen Parkett bestens. Zweitens: Der Gesellschafter-Ausschuss von Bayer 04 mit Werner Wenning (langjähriger Vorstandsvorsitzender der Bayer AG) an der Spitze, der immer noch bestens in der Schaltzentrale der Bayer AG vernetzt ist. Drittens: Sportchef Simon Rolfes, ein äußerst kluger Kerl, der entscheidend dazu beigetragen hat, dass Alonso geholt wurde und der einen Top-Kader zusammengestellt hat.
Viertens: Rudi Völler, die sportliche Dreifaltigkeit, die ich noch vor rund 30 Jahren zu Bayer 04 geholt habe. Der Klub hat ihm so viel zu verdanken. Auch wenn er nicht mehr im operativen Geschäft für Bayer 04 sondern für den DFB als Sportdirektor tätig ist, würde er die Meisterschaft ganz genauso feiern. Fünftens: Natürlich Xabi Alonso, der Fußball-König von Bayer und der gesamten Bundesliga. Er war schon als Spieler ein ganz Großer, absolute Weltklasse und der verlängerte Arm eines Trainers. Ihn umgibt eine gewisse Aura, und er hat einen besonderen Stil. Es gab auch für Bayer 04 einige Widrigkeiten in der Saison, Verletzte oder die Abstellungen für den Afrika-Cup. Doch von Xabi hast du niemals ein Wort der Klage vernommen. Er hat der Mannschaft großes Selbstvertrauen eingeimpft und im Verein alle mitgenommen – die Mannschaft, die Co-Trainer, den ganzen Stab und natürlich auch die Fans. Solch eine Euphorie wie in diesen Tagen habe ich in Leverkusen so noch nie erlebt. Und dass er nach dieser Saison bei Bayer 04 bleibt, das unterstreicht nur seinen großartigen Charakter.
Hat die Mannschaft einen Unterschiedsspieler, den Sie hervorheben wollen?
Ich sprach gerade schon über den verlängerten Arm eines Trainers. Granit Xhaka ist der Chef der Truppe, ihr Anführer. Und im Geist spielt Xhaka für Alonso mit.
Und haben Sie einen persönlichen Lieblingsspieler?
Der ist Florian Wirtz. Aus lokalen Gesichtspunkten und natürlich wegen seiner außergewöhnlichen fußballerischen Fähigkeiten. Ich komme aus Frechen, der Florian aus Brauweiler, das ist gerade einen Steinwurf entfernt. Und was er am Ball kann, ist einzigartig.
Wann waren Sie der Meinung, dass bei Bayer 04 etwas Großes entstehen könnte?
Xabi hatte die Mannschaft schon in der vergangenen Saison von Platz 17 auf sechs und ins Halbfinale der Europa League geführt, bereits das war eine großartige Leistung. Durch den Leipziger Pokalsieg war Bayer direkt für die Gruppenphase der Europa League qualifiziert, das war nicht unwichtig. Schon die Hinrunde lief wie am Schnürchen, aber ein Meilenstein war ganz sicher am 21. Spieltag der absolut verdiente 3:0-Sieg gegen die Bayern. Im Fall einer Niederlage hätte die Bayern Bayer in der Tabelle überholt, doch dann war Xabis Truppe deutlich überlegen und auf fünf Punkte enteilt. Das Spiel war eine Ansage – an die Bayern, an die Liga. Und gab der Mannschaft noch mehr Selbstvertrauen.
Warum gewinnt Leverkusen im Gegensatz zu früher permanent die engen Spiele – und auffallend oft in der Nachspielzeit?
Weil die Mannschaft effektiver, klarer, geschlossener, selbstbewusster auftritt und stets gut eingestellt ist. Mit dem Spielstil, von dem sie nicht abweicht, sorgt sie dafür, dass der Gegner immer hinterherläuft und am Ende müde ist. Die Spieler wissen, dass sie in der Lage sind, auch noch spät zu treffen. Es ist dann kein Zufall mehr, wenn man diese Partien noch für sich entscheidet.
Und wie erklären Sie sich das Abschneiden des FC Bayern in der Bundesliga?
Das ist eigentlich nicht zu erklären, wenn man Spieler wie Neuer, Kimmich, de Ligt, Musiala, Sané, Coman, Kane usw. usw. im Kader hat. Ich habe es schon vor dem 2:2 bei Arsenal mal primitiv erklärt: Man müsste die Spieler mal ganz heiß und eiskalt abduschen und durchrütteln, damit sie mal klar im Kopf werden. Es kann doch nicht sein, dass man mit diesem Spielermaterial so unbeständig ist, ich war bei ihrem Pokal K.o. in Saarbrücken live dabei. Dass die Mannschaft es viel besser kann, das zeigt sie doch in der Champions League. Bayern hat eine realistische Chance, dort den Titel zu holen. Und dabei drücke ich meine dicken Daumen.
Bayer 04 kann die Saison zu einem Triumph machen. Was heißt das für die nächste Spielzeit?
Es ist wunderbar, dass Xabi Alonso und ein Großteil der Mannschaft bleiben wird. Bayer 04 hat damit eine großartige Basis geschaffen und einen großen Schritt in der Entwicklung gemacht, doch die Bayern mit ihren Möglichkeiten bleiben natürlich die Nummer eins und der große Favorit der Zukunft. Die Saison, die Bayer jetzt spielt, die lässt sich nicht so einfach wiederholen. Sie verläuft bisher wie ein einziges Fußball-Märchen.