Wie aus der Komfortzone „Vizekusen“ der Werksklub von heute samt historischer und unbesiegter Meistermannschaft wurde.
Völler, Carro, Rolfes und AlonsoWie sich Bayer 04 Leverkusen zur Meistermannschaft verwandelte
Zuletzt mieden die gegnerischen Fans in Duellen mit Bayer Leverkusen die Gefahr, sich lächerlich zu machen. Selbst die Anhänger des Erzrivalen aus Köln strichen im Derby zur Sicherheit den Klassiker „Ihr werdet nie Deutscher Meister“ aus ihrem Gesangbuch. Zu deutlich war erkennbar, dass es in diesem Jahr zur Premiere kommen würde. Seit Sonntagabend ist es offiziell.
Der 14. April 2024 markiert den historischen Meilenstein von Bayer 04 Leverkusen, an dem der Klub in seiner 120-jährigen Geschichte erstmals Deutscher Fußballmeister wurde. Dass er diesen von seinen Fans so herbeigesehnten Titel gar fünf Spieltage vor Saisonende sicherte, zeigt, wie hochverdient er ihn gewann.
Der Gewinn der Schale ist das vorläufige Happy End eines sportlichen Dramas, das sich über Jahrzehnte erstreckte. Bayer 04 war so chronisch an Titelgewinnen gescheitert, dass Ex-Geschäftsführer Wolfgang Holzhäuser Anfang der 2000er Jahre sogar den spöttischen Spitznamen „Vizekusen“ patentieren ließ, um weiteres Schindluder zu vermeiden. In England firmierte die Leverkusener Titel-Allergie unter der Überschrift „Neverkusen-Curse“, dem „Niemalskusen-Fluch“. Mit diesem 14. April hat alle Häme ein Ende.
43 Spiele in dieser Saison ohne Niederlage
Fernando Carro, der Vorsitzende der Geschäftsführung, hatte in der jüngeren Vergangenheit immer wieder betont, dass die Historie Bayer 04 noch eine Meisterschaft schulde. 24 Jahre nach der Schmach von Unterhaching, 22 Jahre nach der verspielten Triple-Chance, 31 Jahre nach dem bisher letzten Gewinn eines Titels hat die Historie also geliefert – und das mit einer saftigen Kirsche auf der Torte. 43 Spiele ist Leverkusen in dieser Saison wettbewerbsübergreifend ungeschlagen, das Double mit dem bereits feststehenden Einzug ins DFB-Pokal-Finale oder gar das Triple mit dem Gewinn der Europa League scheinen durchaus möglich. Für die Fans ist diese Saison wie ein nicht endender Traum.
Doch warum ist 2023/2024 alles anders als zuvor? Anders als zu Zeiten von Holzhäuser oder Reiner Calmund, als Bayer mit Weltklassespielern wie Emerson, Lucio, Bernd Schneider oder Michael Ballack gesegnet war? Anders als in der Ära Rudi Völler? Es gibt Stimmen, die besagen, dass es aufgrund des Konstrukts bei Bayer 04 nur eine Frage der Zeit gewesen sei, bis sich der Wettbewerbsvorteil einmal auszahlen würde.
Leverkusen ist mit einer Ausnahmeregelung ausgestattet, die es von der harten Durchsetzung der sogenannten 50+1-Regel bewahrt. Rund 25 Millionen Euro schießt die Bayer AG jährlich zu, flexibel einsetzbar über drei Jahre. Zudem werden Verluste ausgeglichen, in guten Jahren werden hingegen auch Gewinne abgeführt. Doch so einfach ist es nicht. Bayer 04 hat durch dieses Modell freilich bessere Voraussetzungen als viele Konkurrenten, so gut wie der FC Bayern oder Borussia Dortmund ist der Verein finanziell aber nicht aufgestellt. Es muss also weitere Gründe dafür geben, warum die Werkself der Konkurrenz in dieser Spielzeit so deutlich enteilt ist. Und die finden sich vor allem in strukturellen Entscheidungen, die weit vor dieser Saison getroffen wurden.
Die Transformation der Werkself begann Mitte 2018. Einer der glühendsten Leverkusener Anhänger ist gleichzeitig auch Vorsitzender des Gesellschafterausschusses bei Bayer 04 und trägt somit Anteil am Erfolg: Werner Wenning. Der Ex-CEO der Bayer AG ist qua Amt mit den anderen sechs Ausschussmitgliedern in jede wichtige Entscheidung der Bayer 04 Leverkusen Fußball GmbH involviert. Seine rückblickend wohl wichtigste war die Berufung Carros in die Geschäftsführung zum 1. Juli 2018. Die Einstellung des spanischen Managers, der sich zuvor unter anderem als Bertelsmann-Vorstand einen Namen gemacht hatte, war die erste Maßnahme auf dem langen Weg zum Meistertitel. Carro gilt als mutiger Entscheider.
„Der erste bedeutende Schritt war, Simon Rolfes als Sportdirektor einzusetzen. Das war die größte Stellschraube“, sagt er rückblickend. „Danach haben wir versucht, in allen Bereichen die Professionalität zu erhöhen — mit einer Mischung aus Menschen mit Bayer-04-Erfahrung und frischer Energie von außen. Wir haben auf allen Ebenen die Qualität erhöht.“ Über Jahre war Rudi Völler das Gesicht des Vereins. Die große Frage lautete stets: Was passiert, wenn „der Rudi“ mal weg ist? Verschwindet das ansonsten so blass anmutende Leverkusen dann ganz von der Fußball-Karte?
Rudi Völler auch Bürgermeister der Komfortzone
Völler war für den Klub allerdings Segen und Fluch zugleich. Doch darf dieser Fluch nicht als bewusste Handlung missverstanden werden. Völler verteidigte Bayer 04 vielmehr mit solcher Vehemenz nach außen, dass er womöglich gar nicht bemerkte, dass sich dadurch das Innenverhältnis änderte. Rudi Völler konnte so auch als Bürgermeister der Komfortzone Leverkusen verstanden werden. Spieler kamen nicht nach Leverkusen, um Titel zu gewinnen. Sondern um den vielzitierten nächsten Schritt zu machen, um sich für einen Verein zu empfehlen, mit dem dann Titel gewonnen werden sollten.
Von Rudi Völler stammt der Satz: „So gut kannst du gar nicht scouten. Du kannst vielleicht mal ein Spiel gegen die Bayern gewinnen, aber über die gesamte Saison hast du keine Chance.“ Diese Haltung war und ist Carro und Rolfes gänzlich fremd. Carro wäre aber auch nicht der Carro von heute, hätte er nicht von Völler in der gemeinsamen Zeit in der Geschäftsführung bis 2022 gelernt, wie unterschiedlich das Fußballgeschäft zur restlichen Wirtschaftswelt funktioniert. Beide schätzen einander sehr und haben letztlich symbiotisch am Titelgewinn gearbeitet.
Das nächste entscheidende Datum auf diesem Weg war der 5. Oktober 2022. Simon Rolfes präsentierte für den erfolglosen Trainer Gerardo Seoane als Nachfolger Xabier Alonso Olano. Der Spanier, der als Spieler alles gewonnen hat, was es zu gewinnen gibt, übernahm die Leverkusener auf Rang 17 in akuter Abstiegsangst. Alonso stabilisierte das Team und formte es – unterstützt von mehreren Top-Transfers im Sommer 2023 – in weniger als zwei Jahren zur Spitzenmannschaft. Als Weltklassefußballer hat es ein Trainer eben viel einfacher, Inhalte zu vermitteln.
Stürmer Patrik Schick erklärte unlängst: „Wenn jemand kommt, der im Fußball alles gewonnen hat, wärst du ziemlich dumm, ihm nicht zuzuhören. Also versuchen wir, ihm komplett zu folgen – allen seinen Taktiken, allen Anweisungen. Wir glauben an das, an das er glaubt.“ Und Granit Xhaka, einer der Erfolgsgaranten als neuer Rudelführer seit dem Sommer, betonte: „Wenn er dir etwas sagt, dann glaubst du ihm das. Er macht im Training gefühlt mehr Kilometer als alle Spieler. Sein Engagement, dieser Wille, besser zu werden, ist unglaublich.“
Dieser Glaube und dieser Wille hatte bereits in der vergangenen Saison auf die Fans abgefärbt. Die Anhängerschaft in Leverkusen wurde über Jahre mindestens so belächelt wie der gesamte Klub. Die Bay-Arena, die für deutsche Verhältnisse mickrigen 30210 Zuschauern Platz bietet, war nicht mal bei Champions-League-Partien ausverkauft. Sie galt als Oase für Gästefans, die mühelos jede Partie zum gefühlten Heimspiel umwandeln konnten. Spätestens mit dem Lauf bis ins Halbfinale der Europa League in der vergangenen Spielzeit entstand aber ein enges Band zwischen Team und Fans.
Experten reiben sich bei Heimspielen verwundert die Augen und berichten davon, dass sie die Bay-Arena als Hexenkessel gar nicht wiedererkennen. Der Heimbereich war in dieser Saison in jeder Ligapartie ausverkauft. Im Dezember begrüßte der Klub sein 40000. Mitglied, im März sein 50000., mehr als 20000 kamen in etwas mehr als einem Jahr dazu. „Ich bin seit über 20 Jahren im Verein dabei. Aber solch eine Euphorie habe ich noch nicht erlebt“, sagt Meinolf Sprink, Leverkusens Direktor Fans/Soziales.
Erfolg macht eben sexy. Die Frage wird lauten, wie nachhaltig die Euphorie rund um Bayer 04 sein wird. Opladen und Wiesdorf werden sicher keine Dortmunder Innenstadt mehr, in der an jeder Ecke der schwarz-gelbe BVB sichtbar ist. Das Potenzial, gerade die jüngeren Generationen für sich zu begeistern, hat der Klub dennoch ohne Frage. Dass Alonso und Supertalent Florian Wirtz auch über diese Saison hinaus Leverkusen die Treue geschworen haben, macht Hoffnung auf eine erfolgreiche mittelfristige Zukunft. Die Fans haben ihren Schlachtruf für die kommende Spielzeit jedenfalls schon gefunden: „Deutscher Meister ist nur der SVB!“