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„Definitiv ein Jahrhundertspiel“Pierre Littbarski über WM-Nacht von Sevilla

Lesezeit 7 Minuten
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Auf dem Rasen von Sevilla: Pierre Littbarski

Köln – Die Nacht von Sevilla, jenes legendäre Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich bei der WM 1982, war eines der facettenreichsten Spiele der WM-Geschichte. Gerade ist ein Buch zum Thema von Stephan Klemm, Redakteur des "Kölner Stadt-Anzeiger", erschienen. Einer der 13 deutschen auf dem Rasen war Pierre Littbarski.

Herr Littbarski, dem Halbfinale der WM 1982 in Spanien, Deutschland gegen Frankreich, ist das gerade erschienene Buch die „Nacht von Sevilla 82“ von Stadt-Anzeiger-Redakteur Stephan Klemm gewidmet. Der Autor hat unter anderem mit allen 13 Spielern gesprochen, die damals für Deutschland auf dem Platz standen, also auch mit Ihnen. Ist es Ihnen leichtgefallen, sich an dieses Spiel zu erinnern?

Natürlich. Es sind zwar viele Jahre seitdem vergangen, Fußballer haben aber Erinnerungen an besondere Spiele. Und dieses Spiel war außergewöhnlich, es hatte eigentlich alles, was ein Fußballspiel haben kann. Fußballerische Qualität, viele Stars auf dem Platz, eine unglaubliche Dramaturgie. Es kommt nicht oft vor, dass eine Mannschaft in der Verlängerung ein 1:3 aufgeholt und dann im Elfmeterschießen gewinnt, wie es uns gelungen ist. So etwas bleibt einem Fußballer für immer in Erinnerung.

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Pierre Littbarski im WM-Halbfinale von 1982 im Duell mit seinem Gegenspieler Manuel Amoros. Hinten lauert Dominique Rocheteau.Foto: imago/Sportfoto Rudel

Sie waren damals 22 und der jüngste Spieler in der Nationalmannschaft von Bundestrainer Jupp Derwall. Sie haben damals ein überragendes Spiel gemacht, das 1:0 selbst geschossen, die Flanke vor dem 2:3 gegeben und auch noch das 3:3 eingeleitet. Haben Sie all diese Spielzüge auch noch Augen?

Ja. Dieses Halbfinale ist eines der wenigen Spiele, das ich mir nachträglich noch angesehen habe. Es war sehr ansprechend, generell und fußballerisch. Und ich konnte ein bisschen dazu beitragen. Wir hatten viele Stars im Team. Leute, die über Jahre den deutschen Fußball geprägt haben – und teilweise heute noch prägen wie Karl-Heinz Rummenigge, Horst Hrubesch oder Klaus Fischer.

In dem Buch bezeichnen Sie das Match von Sevilla als Meilenstein Ihrer Karriere…

… das war es absolut. Es macht mich schon stolz, dass ich ein wichtiger Bestandteil dieses wichtigen Spiels war.

Die Nacht von Sevilla – eine geistige und körperliche Strapaze

Die Partie fand am 8. Juli statt, mitten im andalusischen Hochsommer. Wie haben Sie die Hitze des Abends, es war beim Anstoß um 21 Uhr 33 Grad warm, damals wahrgenommen?

Es war körperlich und geistig eine große Strapaze. Die Hitze hat uns fertiggemacht. Zudem war es für uns das vorweggenommene Endspiel, weil wir gerade bei diesen schweren äußeren Bedingungen wirklich an unsere Grenzen gehen mussten. Uns blieben nach Sevilla am Donnerstag nur zwei freie Tage bis zum Finale in Madrid am Sonntag gegen Italien. Das haben wir dann völlig entkräftet mit 1:3 verloren.

Das Buch zum Spiel begeistert

In Sevilla fand am 8. Juli 1982 ein Fußballspiel statt, das eines der aufregendsten war, das je eine deutsche Nationalmannschaft bestritt. Im WM-Halbfinale bezwang Jupp Derwalls Auswahl Frankreichs Team um Kapitän Michel Platini mit 8:7 nach Elfmeterschießen. Dabei hatten die Deutschen in der Verlängerung schon mit 1:3 zurückgelegen – und glichen doch noch aus. Und dann gab es da noch die Affäre um das brutale Foul des Kölner Torhüter Toni Schumacher an Patrick Battiston.

Stephan Klemm (54), Redakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“, hat diesem Drama das gerade erschienene Buch „Die Nacht von Sevilla ’82“ gewidmet, in dem er die Ereignisse in all in ihren Facetten beleuchtet. Dazu hat er mit allen 13 eingesetzten deutschen Spielern Interviews geführt, zudem mit einigen französischen Profis, mit Historikern und Intellektuellen aus beiden Ländern. Neues arbeitete Klemm über Schumacher heraus, die Nachwirkungen des Fouls in 57. Minute werden detailliert wie noch nie geschildert. Der anfänglich reuelose Schumacher fiel, wie man erfährt, wegen der Nacht von Sevilla später in eine Depression. Auch das weitere Schicksal Battistons wird thematisiert, sein körperliches (vier Zahnverluste, Halswirbelbruch, Operationen) und seelisches Leid (depressive Verstimmungen). Die französische Rezeption des Fouls ordnet der Autor historisch ein, indem er zeigt, dass die Wunden der deutschen Besatzung Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs damals noch nicht verheilt waren, anti-deutsche Stereotype bestimmten die Debatte.

Klemm hat mit wissenschaftlicher Akribie recherchiert. Die „Nacht von Sevilla“, schön aufgemacht mit historischen Fotos, ist ein Buch, das nichts auslässt – und Fußball-Liebhaber begeistern wird. (cm)

Stephan Klemm: Die Nacht von Sevilla ’82. Ein deutsch-französisches Fußball-Drama. Verlag Eriks Buchregal. 192 Seiten, 24,90Euro.

Gegen Frankreich stand es nach 90 Minuten 1:1. In der Verlängerung lagen Sie mit 1:3 hinten, konnten aber ausgleichen, das 3:3 war ein Fallrückzieher von Klaus Fischer, damals wie Sie in Diensten des 1. FC Köln. Wie war das möglich?

Ich glaube, die Franzosen hatten uns nach ihrer 3:1-Führung unterschätzt. Dass wir zurückgekommen sind, liegt an unserem Willen und weil wir das 2:3 durch Rummenigge schnell gemacht haben. Da wussten wir, dass die Franzosen nervös werden.

Im Elfmeterschießen lagen Sie nach Uli Stielikes Fehlschuss auch wieder hinten. Stielike ist daraufhin zusammengebrochen, Sie haben ihn getröstet…

… ich habe später ja auch den Didier Six getröstet, der gleich nach dem Uli verschossen hat. Ich war allerdings auch als nächster Spieler dran, deshalb war ich sehr nah beim Uli. Ich glaube, ich habe ihm da gesagt: Es ist noch längst nicht vorbei. Der Toni hält schon noch einen. Uli aber war untröstlich. Er hat geweint.

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Trost für den Untröstlichen: Littbarski (hinten) und Stielike

Sie haben Ihren Strafstoß in den Winkel gesetzt. Was ging schließlich nach dem gewonnenen Elfmeterschießen in Ihnen vor?

Daran kann ich mich sehr gut erinnern. Wir alle hatten sehr viel Adrenalin im Blut, eben durch die Dramaturgie, weil man in der Verlängerung eigentlich schon auf der Verliererstraße gewesen war. Du bist dann absolut kaputt, einfach nur sehr müde. Ich weiß noch, dass ich gesagt habe: Ich will nur schlafen und Pause machen.

Vergleich mit WM-Sieg und der Skandal um Toni Schumacher

In dem Buch werden Sie mit den Worten zitiert, dass Sie sich über den Erfolg von Sevilla sogar noch mehr gefreut hätten als über den WM-Sieg 1990 in Rom gegen Argentinien. Wieso war das so?

Diese Dramaturgie, die war überhaupt nicht mehr zu überbieten. Deshalb habe ich mich, wenn ich mich recht erinnere, sogar noch mehr nach dem Match von Sevilla über den Sieg gefreut als nach Rom, auch wenn der WM-Sieg natürlich der Höhepunkt meiner Karriere war. Ich glaube aber, qualitativ war das 82er Spiel besser, weil Frankreich so viele großartige Spieler hatte: Platini, Giresse, Tigana, überragend. Die Argentinier 1990 waren nach ihrem WM-Sieg von 86 schon über ihren Zenit, speziell Maradona konnte nicht mehr so glänzen.

Die Partie von Sevilla hatte ein Nachspiel – der Skandal um Toni Schumacher und dessen Brutalo-Foul gegen den Franzosen Patrick Battiston. Sie beschreiben Toni Schumacher, Ihren langjährigen Zimmerpartner, im Buch als jemanden, der immer, auch beim Mikado oder Mensch-ärgere-dich-nicht, gewinnen will. War es dieser Ehrgeiz, der ihn antrieb, wirklich mit allen Mitteln in Sevilla gewinnen zu wollen?

Toni war in allem, was er getan hat, verbissen. Dass bei ihm in der Situation mit Battiston das Timing nicht stimmte, zeigt mir, dass er übermotiviert war. Das ist ihm nur noch ein einziges Mal danach passiert – im WM-Finale von 1986 gegen Argentinien, als er die Flanke vor dem 0:1 von José Luis Brown unterlaufen hat. Auf dem Platz habe ich die Heftigkeit des Zusammenpralls mit Battiston nicht richtig gesehen. Erst, als ich später die Fernsehbilder gesehen habe, ist mir aufgefallen, dass es sehr dramatisch war. Toni wusste danach einfach nicht, wie er sich verhalten sollte.

Das Halbfinale von Sevilla wird manchmal mit dem sogenannten Jahrhundertspiel der WM von 1970 in Mexiko verglichen, dem Halbfinale zwischen Deutschland und Italien, das Deutschland 3:4 Verlängerung verlor. Halten Sie den Vergleich für angemessen?

Ja, 1970, das war auch ein sehr außergewöhnliches Spiel, das habe ich selbst schon mitbekommen. Ich war da zehn Jahre alt, und es standen meine Idole auf dem Platz. Nicht nur bei den Deutschen, auch die Italiener waren teilweise meine Lieblinge. Luigi Riva und Gianni Rivera. Bei den Deutschen vor allem Gerd Müller und Franz Beckenbauer. 1982, das war aber definitiv auch ein Jahrhundertspiel.