Der große WDR-Sportreporter Ernst Huberty ist im Alter von 96 Jahren gestorben. Bleiben werden fabelhafte Bonmots.
Nachruf auf Ernst HubertyDamals, als ausgerechnet Schnellinger traf
In dem Spiel, das zum Meisterwerk eines Kommentators wurde, fügte sich alles zu einem perfekten Ganzen. Unten auf dem Platz, im kochend heißen Aztekenstadion zu Mexiko-Stadt, tobte an jenem 17. Juni 1970 ein wildes Fußballspiel, das wegen seiner Dramatik einen Superlativ erhielt: Spiel des Jahrhunderts. Deutschland gegen Italien. Halbfinale der neunten WM. Die Deutschen schaffen in der letzten Sekunde das 1:1. Verlängerung.
Es folgte blanke Anarchie auf dem Rasen, Tore auf beiden Seiten im Übermaß, ein Spiel, das berührte, zum Schreien animierte – im Stadion und daheim an den Fernsehern. Und oben unterm Dach, mit nicht der allerbesten Sicht, saß der WDR-Sportreporter Ernst Huberty am ARD-Mikrofon, wegen des grotesken Lärms mit seiner Krawatte als improvisiertem Schallschutz in einem Ohr und war der wahrscheinlich ruhigste Mensch im Rund der 100.000 Aufgeregten.
Ernst Huberty: „Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen“
Das ist deshalb so bemerkenswert, weil es heute nicht mehr so ist, dass ein Reporter derart distanziert und doch nahe dran ein Ereignis sprachlich begleitet, das eigentlich ja zum Kreischen animiert, weil es zum Schreien schön ist. Was natürlich nicht heißt, dass früher alles besser war. Aber in diesem Fall war es schon am besten, jenem Ernest Rodolphe Huberty die Verantwortung für den Kommentar dieses Spiels übertragen zu haben. Denn in den Sekunden des Ausgleichs schrie er nicht, wie es heute inflationär der Fall ist, sondern sprach später berühmt gewordene, immer wieder zitierte Worte: „Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen. Ausgerechnet Schnellinger.“
Das ist perfekte Freudminimierung in Zeiten des hektischen Jubelsturms. Und ja auch richtig: Sich zurücknehmen, weil eh jeder sieht, was passiert ist. Gesetzt formulieren. Nüchtern. Souverän. Ausgerechnet Karl-Heinz Schnellinger hatte also getroffen, der Dürener, der so lange für den 1. FC Köln spielte, nun aber für den AC Mailand auflief, Italiens Top-Team. Durchaus berechnend sei das alles gewesen, erzählte Huberty aus Anlass seines 90. Geburtstages vor sechs Jahren. Er hatte auch das Richtige im Gefühl, denn wer sollte schon zuhören, in der Sekunde des Knalls? „Ich habe mir gedacht: Jetzt stehen die Leute alle auf den Tischen, umarmen sich, herzen sich, küssen sich – und du hältst einen Vortrag“, er sagte sich: Nein – „halt den Mund. Entmündige die Menschen nicht.“
Ernst Huberty: Geboren am 22. Februar 1927 in Trier
Viel später hat er all diese Weisheiten als Ausbilder künftigen Kollegen mitgegeben, und zwar bis ins hohe Alter von 87 Jahren. „50 Prozent“ aller im Fernsehen kommentierenden Sportreporter habe er ausgebildet, erinnerte sich Huberty vor sechs Jahren. Es ist ein Jammer, dass er der gerade wieder vorherrschenden Schreikultur keine Grenzen mehr setzen kann. Denn am Montag ist Ernst Huberty, geboren am 22. Februar 1927 in Trier als Sohn eines luxemburgischen Vaters, Wohnort Frechen bei Köln, im Alter von 96 Jahren gestorben.
Doch das, was er geschaffen hat, wird überdauern, nicht nur im Falle des Rheinländers Schnellinger. Huberty, studierter Germanist und Theaterwissenschaftler, gilt als der entscheidende Sportschau-Mann, deren Mitbegründer er war, zu den Anfängen im Juni 1961 noch im Spartensender ARD 2 ausgestrahlt, ohne Fußball. Doch mit der Zeit entwickelte sich der Moderator Huberty, stets bestens gekleidet, sein Haupthaar zum berühmten Klappscheitel vereinigt, zu einem wohltuend distanzierten Stammgast in den Wohnzimmern. Um 17.48 Uhr ging es eine Zeitlang los, und bis zu 15 Millionen Menschen sahen zu, wenn er, der Zeremonienmeister, die runden Tafeln umdrehte, auf denen dann die bis zu drei Spiele erschienen, von denen die Sportschau berichtete. Drei. Mehr nicht.
An das Material aus den Stadien kamen die Macher der Sendung mit abenteuerlichen Mitteln, mit Motorradkurieren oder per Hubschrauber-Sonderflug. Es waren völlig andere Zeiten. Und im Zweiten lief parallel „Daktari“ mit einem schielenden Löwen, den sie Clarence nannten. Die meisten Fernsehzuschauer konnten das nur in der fußballfreien Zeit wahrnehmen.
Das also wird bleiben von Huberty und auch ein irre nüchternes: „unglaublich“, als Stan Libuda mit einer Bogenlampe aus über 20 Metern den Ball im Tor des FC Liverpool unterbrachte, was Borussia Dortmund 1966 in der Pokalsieger-Sparte den ersten Europacup-Sieg einer deutschen Elf einbrachte. Aber eben kein „Wahnsinn“, kein „mega“, kein „Ich halt’s nicht aus.“ Der Ball flog also „ins Tor, ins Tor, ins Tor. Es ist unglaublich.“ Punkt. Das reichte damals. Es würde auch heute reichen.
Sportschau: Ernst Huberty ins dritte Programm versetzt
Doch es gab auch einen Bruch in Hubertys Vita. 1982 wurde er wegen einer letztlich nie ganz aufgeklärten Spesengeschichte von der Sportschau und der Livekommentierung abgezogen und ins dritte Programm gesteckt. Aber auch da, beim WDR: Zurückhaltung. Mit Noblesse ertragene Zurückstufung. Huberty sagte, 90 Jahre alt, dazu: „Unterm Strich ist übrig geblieben, dass ich in meinem Leben viel gelernt habe und dass ich mich völlig umstellen musste, eine ganz andere Arbeit leisten musste in diesem Hause, und die hat mir sehr gutgetan, die war für mein ganzes Leben ungeheuer wichtig.“
Huberty peppte dann noch den Sport im Dritten auf, entschied sich für den Weg der Ausbildung anderer – und fand doch wieder in die Stadien zurück, als Live-Reporter, diesmal für Premiere, das war 1991. Elf Jahre später, da längst schon zurückgetreten, half er nochmal als Spielreporter bei Leverkusen gegen Kaiserslautern für Sat.1 aus und sagte danach, 75 Jahre alt: „Das war es für mein Leben. Nie mehr. Das war die letzte Nummer.“
Ernst Huberty: In Mexiko-City gab er seine größte Nummer
In Mexiko-City aber gab er seine größte Nummer. Das deutsche 2:1, ein Gestochere von Gerd Müller. Huberty lässt alle jubeln, und sagt erst zehn Sekunden später einen Satz, der auch geblieben ist: „Meine Damen und Herren, wenn sie jemals ein echtes Müller-Tor gesehen haben, dann jetzt.“ Später, Müller köpft das 3:3: „Müller. Tor. Dreidrei. Müller.“ Und Pause. Diesmal 17 Sekunden lang. Dann stoisch: „Die Wiederholung.“ Kurz darauf trifft Italien zum 4:3 – und wieder: „Tor.“ Pause. „Rivera, 4:3.“ Mehr nicht.
Und als sich Günter Netzer 1973 im Pokalfinale gegen den 1. FC Köln in der Verlängerung selbst einwechselte – eine Geschichte für sich –, und das entscheidende 2:1 für Mönchengladbach schoss, schrie die Republik daraufhin ein kollektives „ausgerechnet“ in die Luft, denn es war Netzers letztes Spiel für die Borussia vor seinem Wechsel zu Real Madrid. Nicht so Huberty. Im Orkan der Unglaublichkeit sagte er: „Netzer. Vor dem Tor. Und Tor.“ Dann lässt er das Stadion und Netzer und die Gladbacher Spieler jubeln. Hält aber selbst den Mund. Herrlich. Unglaublich. Aber wahr. Und schön.