Fußballer im Schmerzmittelrausch„Ibuprofen werden wie Smarties verteilt“
- Fußballer, die im Schmerzmittelrausch sind: Dieses Problem ist sowohl unter Amateuren als auch Profis weit verbreitet, wie das unabhängige, gemeinnützige Recherchezentrum „Correctiv“, mit dem der „Kölner Stadt-Anzeiger“ kooperiert, aufgedeckt hat.
- Experten sehen darin eine neue Form des Dopings. In diesem Bericht kommen Spieler, Trainer und Experten zu Wort.
November 2019. Freitagabend, Flutlicht. In Mönchengladbach empfängt der Fußball-Bezirksligist Rheydter Spielverein den SV Lürrip. Der Gastgeber ist vorbereitet. „Wir nehmen generell vor Spielen Schmerzmittel, mehr oder weniger die ganze Mannschaft“, berichtet der Kapitän Silvio Cancian im Trainerzimmer. Cancian (25), sagt, er habe schon lange nicht mehr ohne Pillen gespielt. „Man fühlt sich dann sicherer, wenn man Ibuprofen drin hat, als wenn man jetzt keine drin hat.“
Schmerzmittelmissbrauch findet nicht nur bei den Amateuren, sondern auch im Profi-Fußball statt. So berichtet etwa der langjährige BVB-Verteidiger Neven Subotic über seine Erfahrungen aus der Kabine: „Ibuprofen wird wie Smarties verteilt“, sagt Subotic, der heute für Union Berlin spielt. „Für jedes kleine Aua gibt es quasi pauschal Ibuprofen.“ Subotic (31), zweimal Deutscher Meister mit Borussia Dortmund, sagt auch, die Spieler würden über mögliche Folgen in der Regel nicht informiert. „Es heißt dann immer: »Wenn du spielen willst, kannst du das nehmen, dann fühlst du dich gut, und dann spielst du.«“ Er selbst halte sich, so gut es gehe, fern von den Mitteln.
„Wie Smarties“ schlucken auch die Amateurkicker vom Rheydter SV Schmerzmittel. „Die Tabletten holen wir meistens in Holland“, sagt Trainer René Schnitzler (35), der früher beim FC St. Pauli spielte. Schnitzlers Co-Trainer Ferdi Berberoglu hat beobachtet, was die Pillen mit den Spielern machen. „Die werden durch die Schmerzmittel lockerer. Damit die diesen Druck loswerden“, sagt er. Laut Trainer Schnitzler ist das „im Amateurbereich sogar noch viel, viel mehr geworden“.
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Wie weit verbreitet ist es bei den Millionen deutschen Freizeitkickern, mit Schmerztabletten kurz vor Anpfiff zum Beispiel die Nervosität zu senken? An einer Befragung des Recherchezentrums „Correctiv“ und der ARD-Dopingredaktion beteiligten sich 1142 Spieler. Das Ergebnis der nicht repräsentativen Online-Erhebung: Etwa die Hälfte der Teilnehmer nehmen mehrmals pro Saison Schmerzmittel, 21 Prozent gar einmal pro Monat oder öfter. Als Grund gaben sie längst nicht nur die Bekämpfung von akuten Schmerzen an. Fast 42 Prozent der Teilnehmer wollen mit den Pillen vielmehr auch Einfluss auf ihre Leistung nehmen. Konkret wollen sie die Belastbarkeit erhöhen, Sicherheit gewinnen und den Kopf frei haben. Einige erklärten in der Befragung aber auch, unmittelbar ihre Leistung steigern zu wollen.
Für den Kölner Dopingforscher Hans Geyer sind Schmerzmittel im Sport eine Form des Dopings. Auf der Liste der Welt-Antidoping-Agentur (Wada) stehen die Medikamente aber nicht. Dabei können sie bei übermäßigem Konsum durchaus gefährlich sein: Sie können Magen, Herz und Nieren schaden. Einige Amateurspieler schilderten in der Befragung, was sie erlebten. Von „Abhängigkeit“ und „ständigem Verlangen“ schrieben sie, von „Blut im Stuhl“ und „chronischen Entzündungen“, von „hohem Blutverlust bei offenen Wunden“ und „Darmbluten“. Über „Leberwerte, die durch die Decke gehen“, berichtete Felix Lenneper, ein Amateurspieler aus dem Sauerland, in der Befragung. An seinem rechten Bein und Fuß zählt er heute 15 Verletzungen – Bänderrisse, Brüche, Knorpelschäden. So weit wäre es nicht gekommen ohne Schmerzmittel, die den Körper weit über jede Grenze der Vernunft noch einsatzfähig machen.
Auf Verletzungen antwortete Lenneper schon als Jugendspieler mit Schmerzmitteln. Er startete mit Ibuprofen 400, steigerte die Dosis auf zwei Ibuprofen 800 am Tag und endete beim synthetischen Opioid Tilidin. Als wegen einer Grippe sein Blut untersucht wurde, erfuhr er, dass seine Leberwerte zehnmal höher als normal waren. Das Opiat Tilidin hatte ihm ein Mitspieler empfohlen. Ärzte verschreiben es Krebspatienten oder frisch Operierten. Lenneper nahm mit 19 Jahren über einen Zeitraum von neun Monaten vor den Spielen regelmäßig eine halbe Tablette Tilidin. Zu Hause warf er manchmal noch nach. „Ich verspürte ein Verlangen“, sagt er heute. Bei einem Spiel im Frühjahr 2010 nahm er wegen einer Zerrung eine komplette Tilidin-Tablette.
Kreislaufkollaps
Die Reaktion seines Körpers: „Meine Muskeln begannen zu zittern, ich hatte kalten Schweiß auf der Haut, Schwindel, alle Grippesymptome im Schnelldurchlauf.“ Er quälte sich auf den Platz, sackte aber bald zusammen. Nach einer halben Stunde musste er sich erbrechen. Wenig später saß er im Krankenwagen. In der Notfallambulanz sprachen die Ärzte von einem Kreislaufkollaps. Dass Lenneper Tilidin genommen hatte, behielt er in der Klinik für sich.
Insgesamt vier Jahre versuchte er noch, weiter Fußball zu spielen. 2015 musste er mit 24 Jahren seine Laufbahn beenden. Bei der Befragung von Correctiv und ARD-Dopingredaktion, deren TV-Dokumentation am Dienstag in der ARD lief und die jetzt in der Mediathek abrufbar ist, berichteten insgesamt fünf Spieler, sie hätten Tilidin genommen, um weiter Fußball spielen zu können. Fünf weitere Spieler gaben andere Opioide an.
Der Präsident des Deutschen Fußball-Bunds (DFB), Fritz Keller, zeigte sich „schockiert“, als ihm das Ergebnis der Befragung gezeigt wurde – und kündigte eine Reaktion an: „Da müssen wir unbedingt an unsere Landesverbände gehen und über Trainer eine Sensibilisierung hinkriegen.“ Der Sport im Amateurbereich, so Deutschlands ranghöchster Fußball-Vertreter, sei „zur Gesunderhaltung gedacht und nicht dafür, dass man sich kaputtmacht“.
Die Autoren gehören zum unabhängigen, gemeinnützigen Recherchezentrum „Correctiv“, mit dem der „Kölner Stadt-Anzeiger“ kooperiert. Im Verbund mit der ARD-Dopingredaktion hat Correctiv über Monate zum Thema Schmerzmittelmissbrauch im Fußball recherchiert.