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1000 Länderspiel der DFB-ElfDer Mythos der Mannschaft der Nation

Lesezeit 9 Minuten
Mario Götze Deutschland beim Schlussjubel nach dem Abpfiff des WM-Finales 2014 mit Draxler und Ginter.

13. Juli 2014: Die deutsche Nationalmannschaft feiert den Gewinn ihres vierten WM-Titels in Rio.

Die DFB-Elf steht vor einem besonderen Jubiläum. Vor allem während Turnieren bindet sie die Massen und erzeugt ein nationales „Wir-Gefühl.“

Länderspiel Nummer 223 endet mit einem Triumph, die als unbezwingbar vorgestellten Ungarn sind tatsächlich besiegt, in der Berner Luft flirrt, bei allem Jubel, ein Hauch von Unwirklichkeit. Der Zeitpunkt ist ein besonderer, 4. Juli 1954, neun Jahre sind nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen, und nun wird eine deutsche Mannschaft mit dem Präfix „National“ allgemein für den erstmaligen Gewinn des Fußball-Weltpokals gefeiert.

Die besondere Bedeutung des Berner Wunders

Der Erfolg dieser Nationalmannschaft fällt in die Zeit des Wiederaufbaus, er entzückt die Menschen in der jungen Bundesrepublik und hatte eine enorme emotionale Bedeutung. Der Historiker und Publizist Joachim Fest fasste das einmal, einen Freund zitierend, so zusammen: „Es gibt drei Gründungsväter der Bundesrepublik. Politisch ist es Adenauer, wirtschaftlich ist es Erhard und mental ist es Fritz Walter.“

Zwei Politiker und ein Fußballer, letzterer war der Kapitän der Weltmeister-Elf, deren Erfolg auch das Prädikat „Wunder von Bern“ trägt. Wobei in diesem Zusammenhang durchaus auch Sepp Herberger genannt werden könnte, der Trainer der Mannschaft und der Architekt des WM-Gewinns. National, Mannschaft, Gründungsmythos – passt das tatsächlich zusammen, war das wirklich so, ist das stimmig?

Es gibt keinen Zweifel daran, dass ein Fußballspiel, das eine Auswahl im Namen eines Landes bestreitet, besonders betrachtet wird und wurde, durch alle Zeiten hindurch. Anders als das Spiel eines Klubs vereint sie in einer Art Parallelwelt des fußballerischen Alltags ein gefühlt zunehmend größer werdendes Landespublikum, wobei das auch immer von der Konjunktur abhängig ist, also von den Leistungen des Teams.

Nationalmannschaft: Vereinigungsort für alle Fußballfans und Nicht-Fans

Die aber waren besonders bei den Kristallisationspunkten dieser Nationalmannschaften, den Turnieren, den Weltmeisterschaften und, im Falle von Deutschland, auch den Europameisterschaften, alle zwei Jahre ein Vereinigungsort für alle Fußballfans des Landes, ob sie nun Anhänger von Holstein Kiel, des 1. FC Köln oder von Bayern München sind. Interessanterweise erreichen diese Spiele der Nationen in Deutschland alle zwei Jahre auch Menschen, die der Fußball ansonsten nicht interessiert.

Aus dieser Form des Gemeinschaftserlebnisses – WM und EM schauen, leiden, trauern, jubeln oder feiern – entwickelt sich nicht selten eine Erinnerung fürs Leben – je nach Intensität eines Turniers, seines Verlaufs und Ausgangs.

In dieser Hinsicht hat gerade die deutsche Nationalmannschaft sehr viel zu bieten: Acht Teilnahmen an WM-Endspielen sind ein einsamer Weltrekord, 13 Halbfinalteilnahmen ebenfalls. Diese Spiele sind Teil der Gedenkkultur dieses Landes, dieser Nation, oft hervorgeholt aus dem Album der ganz großen Spiele der DFB-Auswahl, der Mannschaft der Nation.

Bewusst politisches Spiel 1000 gegen die Ukraine

999 Spiele dieser Nationalmannschaft gab es bereits, am kommenden Montag steigt die 1000. Partie in Bremen, Gegner ist die Ukraine, eine Wahl mit bewusst politischer Bedeutung. Die Ukraine ist eine von einem Angriffskrieg heimgesuchte Nation, die mit einem solchen Match eben auch zeigen kann, dass sie noch und weiter existiert.

Zu diesem Thema äußert sich DFB-Präsident Bernd Neuendorf entsprechend politisch-präsidial: „Wir möchten das 1000. Länderspiel nutzen, um ein klares Zeichen für Frieden und Völkerverständigung und gegen Krieg und Zerstörung zu setzen.“

Soziologe trifft bei der Bewertung von Bern eine Unterscheidung

Die inzwischen als friedlich in die politische Welt des Westens wiederaufgenommene Bundesrepublik des Jahres 1954, für die in Bern eine stilisierte Wundernationalmannschaft spielte, hatte zumindest intern ebenfalls ein Zeichen für die Verständigung des eigenen Volkes geleistet, das ist unbestritten. Doch wie verhält es sich mit Fests Zitat? War Bern der eigentliche Gründungsmoment der BRD?

Der renommierte Sozialwissenschaftler Albrecht Sonntag, Professor für Europastudien an der École de Management im französischen Angers, äußert Zweifel an dieser Ansicht. Sonntag hat viel über die Identitäten des europäischen Fußballs geforscht, in Bezug auf 1954 sagt er: „Dieses ‚Wir sind wieder wer‘ stand damals nicht so sehr im Vordergrund wie ein ‚Wir sind wieder akzeptiert‘. Das ist ein erheblicher Unterschied.“

„Die Nationalmannschaft ist ein ganz bedeutender Teil meines Lebens. Ohne sie wäre mein Leben zu 100 Prozent ganz anders verlaufen.“
Paul Breitner, Weltmeister 1974

Aber die deutsche Nationalmannschaft spielte ja nicht nur 1954. Partie Nummer eins absolvierte sie am 5. April 1908 in der Schweiz, ihrem bisher häufigsten Gegner (53 Spiele), und verlor mit 3:5. Aber viel mehr als für Niederlagen ist diese Auswahl bekannt für ihre Siege, die den deutschen Fußball zu einem weltweit anerkannten Qualitätsprodukt werden ließen.

Die Nachfolger der 54er-Weltmeister gewannen in den Jahren 1974, 1990 und 2014 ebenfalls den größten Titel des Fußballs. Und es wird deutlich, wie wichtig es den Vertretern dieser Sieger-Generationen war, das Trikot zu tragen, das sie über ihr Dasein als Vereinsspieler hinaushob.

Der Bayer Paul Breitner etwa, mit 22 Jahren einer der Weltmeister von München 1974, sagt im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Die Nationalmannschaft ist ein ganz bedeutender Teil meines Lebens. Ohne sie wäre mein Leben zu 100 Prozent ganz anders verlaufen. Sie hat mein Leben und das meiner Familie elementar bestimmt.“

Rudi Völler: „Mehr zu werden als Nationalspieler, das geht nicht“

Breitners 74er-Teamkollege, der Rheinländer Wolfgang Overath, wird sehr emotional, wenn er an seine Zeit als Nationalspieler zurückdenkt, er spricht von Respekt vor der Aufgabe, von dem Traum, es einmal zu schaffen und kommt zu dem Schluss: „Bis heute sage ich: Es ist eine riesengroße Ehre für sein Land zu spielen. Und für die Menschen, die sich für den Fußball interessieren.“

Der Franke Lothar Matthäus, Kapitän der WM-Elf von 1990 und mit 150 Länderspielen Rekord-Nationalspieler, empfindet genauso, weist aber darauf hin, dass „du als Nationalspieler für den fußballerischen Erfolg einer ganzen Nation verantwortlich bist“, was durchaus auch Druck erzeuge. Und der Hesse Rudi Völler, der die Nationalmannschaft als Spieler und Weltmeister von 1990 kennt, aber auch als Teamchef zwischen 2000 und 2004, und der ihr seit 2023 als Sportdirektor vorsteht, sagt: „Mehr zu werden als Nationalspieler, das geht nicht. Das ist das Optimum.“

Umgang mit dem Wort „national“

Das Wort „National“ vor dieser Mannschaft betont ein Wort, das die Deutschen in ihrem Sprachgebrauch aus historischen Gründen eigentlich vermeiden. Heute gibt es noch die Begriffe nationaler Feiertag und Nationalhymne. Dann aber auch Worte wie Bundesstraßen, Deutsche Bahn oder Bundespost, Bezeichnungen, die etwa in Frankreich mit der Vorsilbe „national“ verbunden werden.

Anders verhält es sich mit der ersten Mannschaft dieses Landes: Sie heißt nicht Bundesmannschaft, das Wort Nationalmannschaft lässt sich unbefangen aussprechen, peinlich daran könnte höchstens der zweite Teil des Wortes sein, Mannschaft, etwa dann, wenn sie wie 2018 oder 2022 in der ersten Runde eines WM-Turniers ausscheidet, was zuvor nie geschah.

Historisch bedingte Rivalitäten der Nationalmannschaft

Der moderne Fußball hat seine Ursprünge im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. „Das war eine Zeit, die von Nationalismus total aufgeladen war“, sagt der Soziologe Sonntag. Die Nationalmannschaften seien Produkte dieser Zeit, „sie gehorchten dem Imperativ der Rivalität, dem Wunsch, sich mit anderen Nationen nun auch mal sportlich, nicht nur kriegerisch zu messen.“

Manchmal aber rutsche der Fußball der Nationen ab in bedenkenswerte Feindseligkeiten, wie sie die deutsche Nationalelf etwa bei ihrem EM-Halbfinalniederlage in Hamburg 1988 oder vor allem beim Sieg im WM-Achtelfinale 1990 mit den Niederlanden kennenlernen musste. Es handelte sich um eine Rivalität, die in dem Terror begründet lag, mit dem das Deutsche Reich die Niederlande im Zweiten Weltkrieg überzogen hatte. Mittlerweile aber ist in Begegnungen der beiden Nationen der Zustand der Normalität erreicht.

„Wenn wir etwas Großes geleistet haben, haben wir ein ganzes Land begeistert.“
Wolfgang Overath, Weltmeister 1974

Und dann tauchte Bundestrainer Joachim Löw 2010 zum WM-Turnier in Südafrika mit einer ganz besonderen Nationalmannschaft auf, die nicht nur wegen des fabelhaften Fußballs auffiel, den sie damals spielte. Diese Auswahl habe weltweit eine besondere Wirkung erzielt als Botschafter der Nation Deutschland, erinnert sich Sonntag: „Damals hat man überall auf der Welt zur Kenntnis genommen, dass Spieler wie Jérôme Boateng, Sami Khedira, Mesut Özil oder Cacau eben das neue Deutschland repräsentieren. Bei dieser Gelegenheit wurde das Multikulturelle und die Multiethnizität endlich einmal sichtbar. Das hatte eine enorm positive Wirkung und Ausstrahlung außerhalb von Deutschland.“

Hinzu kommt intern, darauf weist Overath hin, die Euphorie rund um die Nationalmannschaft: „Wenn wir etwas Großes geleistet haben, haben wir ein ganzes Land begeistert.“ Und für die einzelne Weltmeister-Person ergaben sich Folgen, die subjektiv sehr bedeutend waren. Paul Breitner sagt: „Alles, was sich nach dem Finalerfolg 1974 und um mich herum getan hat, geschah unter dem Gesichtspunkt: Ich bin Weltmeister.“

Einmal Weltmeister, immer Weltmeister

Overath, der einstige Star des 1. FC Köln, kann das nur unterstreichen: „Wenn man Weltmeister ist, ist der Stellenwert in der Gesellschaft ganz anders.“ Bei Matthäus und Völler kam noch die im Jahr zuvor erfolgte Wiedervereinigung hinzu: „Wir waren die Wendeweltmeister“, sagt Völler. Im gesamten Land sei auf den Straßen gejubelt worden – „das gab es in dieser Form vorher noch nie“, sagt Matthäus.

Eine gewisse – Achtung: nationale – Begeisterung haben früh zwei Kanzler und schließlich eine Kanzlerin genutzt, um dabei zu sein: Helmut Schmidt war 1974 Augenzeuge des WM-Gewinns in München, genauso wie Helmut Kohl 1990 in Rom, auch Angela Merkel war 2014 in Rio vor Ort. „Da geht es auch um Positionierung, das ist eine gute Gelegenheit dafür“, sagt Matthäus. 1954 jedoch fehlte Konrad Adenauer in Bern. Aus Desinteresse.

DFB-Mannschaft ist Teil des gesellschaftlichen Lebens

Im Laufe der Jahrzehnte nach 1908 entwickelte sich die Nationalmannschaft zu einem Stück deutschen Alltags- und Gesellschaftslebens. Rudi Völler, der neue Sportdirektor des Teams, sagt dazu: „Im Fußball ist eine Nationalmannschaft das Größte, sie ist ein Botschafter für ein Land, das erklärt auch den Stellenwert für die Gesellschaft. Wenn die großen Turniere kommen, identifizierst du dich als Fußballanhänger mit deinem Land und den besten Spielern deines Landes.“

Und sie zeigen seit der Heim-WM 2006 etwa mit schwarz-rot-gold beflaggten Autos und mit in dieser Farbkombination ausgestatteten und geschminkten Fans ein neues Einstehen nicht nur für das Team, sondern auch für das Land, das es repräsentiert.

Dass deutsche Mannschaften bei WM-Turnieren immer wieder bis zum Ende dabei waren, hat auch mit einer Form der Selbstwahrnehmung und -bestätigung zu tun, die sich zu einer Fremdwahrnehmung steigern kann: Oh jeh, die Deutschen, die kannst du bei Turnieren eigentlich nicht bezwingen.

EM 2024: Von oben verordnete Aufbruchsstimmung

Mentalität gehöre auch dazu, Zusammenhalt, Harmonie, der wirklich vorhandene Glaube, auch in aussichtslosen Situationen reagieren und Spiele drehen zu können und das Bewusstsein der eigenen Stärke angesichts von herausragenden Spielern in allen Epochen. Das betonen die vier Weltmeister Breitner, Overath, Matthäus und Völler. Der Tatsache, dass deutsche Teams zuletzt gleich zweimal in der Vorrunde gescheitert sind, wohnt nun aber eine Gefahr inne, der sie sich stellen müssen: ein neu implantiertes Zittern um das Erreichen der Finalrunde.

2024 empfängt Deutschland zur EM 23 Nationen. Völler entwickelt als Sportdirektor gerade die Mission, die Vorgeschichte des frühen Scheiterns offensiv zu ignorieren. Bei der EM im eigenen Land müsse man den Heimvorteil für das „Kreieren einer Aufbruchstimmung nutzen. Auf dass ganz Deutschland hinter uns steht“ und im Idealfall „Topleistungen“ des eigenen Teams sehen könne.

Ganz so wie es früher einmal war, dafür steht der Retro-Völler. Denn: „Die Menschen wollen sich ja von der Nationalmannschaft begeistern lassen.“ Die Frage ist, ob sich eine von oben verordnete Aufbruchsstimmung einfach so einpflanzen lässt. Völlers Antwort darauf ist eine Ansage: „Das geht, davon gehe ich aus.“ Den Anfang könne die Nationalmannschaft jetzt machen, sagt er. Am Montag in Bremen gegen die Ukraine. Bei ihrem 1000. Länderspiel.