Der Bundestrainer musste sich am Montag Pfiffe und Spott anhören. Die beste Nachricht: Es bleibt ihm noch etwas Zeit bis zur EM.
Neue Formation, neue FragenRatloser Flick sucht Hoffnung im Sommermärchen 2006
Hansi Flick saß im Bremer Presseraum auf dem Podium und musste sich vorkommen wie auf einer Anklagebank. Bohrende Fragen prasselten nach dem nächsten Stimmungs-Tiefpunkt beim 3:3 (1:2) gegen die Ukraine auf den Bundestrainer ein, bevor er mit dem DFB-Tross noch am Abend wieder ganz flott in das abgeschiedene Frankfurter Stammquartier entschwand.
Sechs Monate nach dem kläglichen WM-Scheitern lässt der einstige Bayern-Titelschmied Flick auch einen tauglichen EM-Kompass vermissen, der die Fußball-Nationalmannschaft erfolgreich Richtung Heimturnier 2024 navigiert.
Hansi Flick beschwört Geist des Sommermärchens
Ungewollt gab der 58-Jährige mit einem direkten Bezug zur Heim-WM 2006 der aktuellen Situation exakt ein Jahr vor dem EM-Anpfiff auch noch selbst eine alarmierende Tragweite. „2006 hat man im März 1:4 in Italien verloren und es war eine wahnsinnig negative Stimmung. Trotzdem ist es ein Sommermärchen geworden“, erinnerte Flick an die nationale Krisensituation unter Jürgen Klinsmann wenige Monate vor der WM im eigenen Land.
Flicks Intention bei diesem Vergleich war: Keine Panik! Es ist noch genug Zeit! Er stecke mit seinem Team mitten in einem Prozess. „Wir wissen, dass eine Menge an Arbeit vor uns liegt. Ich bin wirklich überzeugt von der Mannschaft. In Ansätzen können wir einen guten Fußball spielen. Wir müssen am Ergebnis arbeiten, am besten, indem wir die Spiele gewinnen.“
Hansi Flick muss zweite Chance nutzen
Im Verband müssten sie eher nervös werden. Präsident Bernd Neuendorf und Sportdirektor Rudi Völler schauten in Bremen mit versteinerten Mienen zu. Der DFB kann sich kein viertes vermurkstes Turnier nacheinander leisten, weder sportlich noch finanziell – erst recht nicht im eigenen Land. Turnierdirektor Philipp Lahm ist längst besorgt um sein Großevent: „Wir haben immer noch gute Spieler. Hansi Flick muss jetzt daraus eine Mannschaft bilden“, sagte er im dpa-Interview – vor dem Spiel gegen die Ukraine.
Die DFB-Entscheider könnten ein Jahr Zeit auch anders interpretieren, nachdem Flick eine zweite Chance nach der WM unbedingt wollte und von Präsident Neuendorf und DFL-Aufsichtsratschef Hans-Joachim Watzke schnell bekommen hatte. Gehen musste Oliver Bierhoff.
DFB-Elf: Nur vier Siege aus letzten 14 Spielen
„Wir haben einen Plan, was das Ganze betrifft. Den werden wir weiter durchziehen“, kündigte Flick vor den weiteren EM-Tests am Freitag in Warschau gegen Polen und vier Tage später in Gelsenkirchen gegen Kolumbien an. Freundschaftsspiele wie das 1000. gegen die Ukraine mit ihrer ganzen Friedens-Symbolik wegen des russischen Angriffskriegs sind das nicht mehr. Flick meinte mit dem Durchziehen auch das missglückte und nach den drei Gegentoren abgebrochene Experiment mit der Dreierkette.
Es gab aber noch mehr Fragen, die sich auch viele der pfeifenden Fans im Weserstadion und auch jene 4,57 Millionen Menschen gestellt haben dürften, die zur familienfreundlichen Anstoßzeit um 18.00 Uhr vorm Fernseher saßen. Ist die enorme Qualität, die Flick seinem Team immer wieder attestiert, womöglich eine Fehleinschätzung? Überfordert er sie mit immer neuen Aufgaben, Aufstellungen und Ideen? Nein, nein, nein, antwortete Flick. Die nackten Ergebnisse beschreiben einen klaren Trend: Nach acht Siegen bei Flicks bestauntem Rekordstart als Bundestrainer gab es nur noch vier Erfolge in 14 Partien.
Müde DFB-Stars müssen neues System lernen
Der 58-Jährige macht sich angreifbar. Ein EM-Team, eine funktionierende Achse ist nicht zu erkennen. Im März waren sechs Neulinge dabei. Jetzt wird ein neues System erprobt. Gegen die Ukraine standen Akteure wie Leon Goretzka, David Raum, Nico Schlotterbeck und Leroy Sané in der Startelf, die in ihren Clubs zuletzt nicht performten. Kai Havertz, der das 2:3 erzielte und den von Kapitän Joshua Kimmich verwandelten Foulelfmeter zum ganz späten 3:3 herausholte, kam wie Jamal Musiala und Florian Wirtz erst auf den Platz, als ein Debakel drohte. Das Trio verkörpert Gegenwart und Zukunft, kann ein Publikum mitnehmen.
Das verärgerte Flick auch noch mit der Auswechslung von Lokalmatador und Torschütze Niclas Füllkrug zur Pause. „Ich kann keine Rücksicht darauf nehmen, dass er in Bremen spielt. Wir wollten einfach Wechsel vornehmen, wir wollten ein bisschen was ändern.“
Dabei braucht das Team Halt und Ankerpunkte. „Das Spiel zeigt die Verfassung der Mannschaft“, sagte Flick selbst. Es fehle „die breite Brust“, es fehlten Automatismen. Abwehrspieler Antonio Rüdiger sprach vom nächsten „Kollaps“ nach einem guten Start. „Es hat auch was mit Hingabe zu tun. Du musst Zweikämpfe gewinnen“, sagte der Real-Madrid-Profi mal wieder nach „drei geschenkten“ Gegentoren. Der Verzicht auf Niklas Süle, den auch einer wie Rüdiger „verwundert“ zur Kenntnis nahm, fällt Flick nun vor die Füße.
Druck steigt auf Flick und DFB-Elf
Kapitän Kimmich äußerte derweil eine klare Priorität, die jetzt gegen Polen und Kolumbien auf der Agenda stehen sollte. „Der Fußball ist und bleibt ein Ergebnissport. Und wir müssen es schnellstmöglich schaffen, dass wir die Ergebnisse in den Griff bekommen.“
Champions-League-Sieger Ilkay Gündogan stößt am Mittwoch nach den Feierlichkeiten mit Manchester City zum Team, ebenso Finalverlierer Robin Gosens von Inter Mailand. Vielleicht kann Gündogan nach der besten Vereinssaison seiner Karriere Führung und ein Sieger-Gen ins DFB-Team übertragen. Flick steht vor einer unruhigen und wegweisenden Woche. Der Druck steigt. Zur Mannschaft sagte er: „Kopf hoch, es geht weiter gegen Polen.“ (dpa)