„Ganz schön bittere Nummer“Wie Karl Geiger die 70. Vierschanzentournee gewinnen will
Köln/Oberstdorf – An die Zeit, als Ende Dezember 2012 alles begann, kann sich Karl Geiger heute mit einem nachsichtigen Lächeln erinnern. Es ging schief, auf unglückliche Art und Weise. Der Oberstdorfer Geiger reiste also rüber zur örtlichen Schattenbergschanze, 19 Jahre jung, erster Start bei der Vierschanzentournee im Allgäuer Auftaktort der Vierschanzentournee. Qualifikation. Geiger springt schwach, er wird 51. und verpasst damit um einen Platz oder 0,5 Punkte, die ihm zum Russen Anton Kalinitschenko fehlen, den Einzug in den Wettkampf. Im Jahr drauf: Geiger belegt in der Qualifikation für Oberstdorf, nun ja, wieder Rang 51. Erneut kein Wettkampf. „Das war eine ganz schön bittere Nummer“, sagt Geiger, der nun, neun Jahre danach, wieder die Schattenbergschanze in Angriff nimmt. Als Favorit auf den Gesamtsieg. Und als Vorjahressieger. „Ich habe das Emotionsspektrum komplett ausgereizt“, sagt Geiger.
Die Geister-Qualifikation am Dienstagabend absolvierte Geiger schon mal wie ein Anwärter auf den großen Erfolg. Bei stürmischen und nassen Bedingungen belegte er den zweiten Platz hinter dem noch vor Geiger als größtem der Favoriten startenden Japaner Ryoyu Kobayashi. Aber vor dem Norweger Halvor Egner Granerud.
Traumschüler für seine Trainer
Als Athlet ist Geiger ein Traumschüler für seine Trainer. Sachlich schildert er den Betreuern seine Probleme, wenn etwas nicht aufgeht, mit dem steten Verlangen, sich zu verbessern. Die Vorschläge zur Behebung der Sorgen nimmt er akribisch an. Wie er überhaupt fleißig arbeitet, sich Automatismen erspringt und über eine innere Ruhe verfügt, die ihm auch hilft, die Anspannung und die ihm begegnende Erwartungshaltung auszuhalten. „Das Gesamtpaket Geiger ist einfach gut“, sagt Bundestrainer Stefan Horngacher – und meint damit dessen athletische Fähigkeiten, seine Kraftwerte, seinen Absprung in der richtigen Hundertstelsekunde und seine Telemark-Landung im hohen Weitenbereich.
Im vergangenen Jahr reizte Geiger unfreiwillig erneut das gesamte Emotionsspektrum aus, damals aber innerhalb kurzer Zeit. Anfang Dezember 2020 verließ Geiger die Anti-Covid-Blase der im Weltcup aktiven Skispringer und reiste nach Hause, um der Geburt seiner Tochter beizuwohnen. Doch Luisa ließ auf sich warten, so dass Geiger nach Rücksprache mit seiner Frau Franziska die Erlaubnis erhielt, mal eben zur Skiflug-WM nach Planica in Slowenien zu reisen. Dort gewann er, kaum zu glauben, Gold im Einzel und Silber mit der Mannschaft. Die Rückkehr wurde ihm auch privat vergoldet: Luisa ward geboren, höchstes Glück. Was jedoch von einem herben Rückschlag begleitet wurde, als Geiger nur zwei Tage danach positiv auf Corona getestet wurde: Quarantäne, kein Kontakt zu seinem Kind und seinen Kollegen, keine Tournee-Generalprobe in Engelberg in der Schweiz. Doch zwei Tage nach dem Ende seiner erzwungenen Auszeit gewann Geiger das Auftaktspringen von Oberstdorf – das war unglaublich.
Geiger bringt nichts mehr aus der Ruhe
Geiger hat all das stoisch angenommen, die größten Triumphe und die blöde Wende, gewiss auch, weil diesen jungen Mann von nun 28 Jahren aber auch gar nichts aus der Ruhe zu bringen scheint. Damals sagte er: „Das waren die aufregendste Wochen meines Lebens. Ich komme zurück, weiß gar nicht, wie ich drauf bin, denn ich bin ja lange nicht mehr gesprungen. Dann zu gewinnen, ist großartig.“
In diesem Jahr weiß Geiger vor allem, dass er es drauf hat, dass seine Technik, sein Sprung, seine Automatismen, die er sich im Laufe der Jahre erarbeitet hat, passen. Geiger führt den Gesamtweltcup sehr deutlich an, er hat zwei von neun Springen gewonnen und dazu drei zweite und zwei vierte Plätze erreicht. Das gibt Selbstvertrauen und lässt auch den ansonsten eher reservierten Athleten offensiv für sich werben. „Ich möchte die Tournee gewinnen“, sagt Geiger, alles beginne bei Null, er könne befreit aufspringen und nur gewinnen, denn zu verlieren gebe es ja nichts. Das ist eine bestechende Logik, die dem „Bachelor of Engeneering“, der er nach seinem Studium der Energie- und Umwelttechnik in Kempten seit 2019 ist, gewiss etwas von dem großen Druck nimmt, der sich um ihn aufbaut.
Denn einen deutschen Sieger hat es seit 20 Jahren nicht mehr bei der Tournee gegeben. Geiger, Gesamtzweiter des Vorjahres, sagt nun: „Irgendeiner von uns sollte das Ding jetzt mal holen.“ Ach ja und die Last, weil die Rolles dieses „Irgendeinen“ in diesem Jahr vor allem für ihn reserviert ist? „Da habe ich in den vergangenen Jahren dazugelernt. Ich fühle mich der Sache gewachsen. Und ich bin bereit.“
So antwortet tatsächlich vor allem ein Musterschüler.