Lance Armstrongs Tour de FarceDie größte Lügengeschichte der Radsport-Welt
- Er dominierte seine Gegner, siegte souverän, war überzeugend in allen Facetten des härtesten und bedeutendsten Radrennens der Welt: Vor 20 Jahren gewann der ehemalige Krebspatient erstmals die Frankreich-Rundfahrt.
- Nicht nur Kenner der Szene fragten sich damals: Wie ist das möglich? Kann das wahr sein?
- Ein Rückblick auf die größte Lügengeschichte der Rad-, wenn nicht sogar der kompletten Sport-Welt.
Das Anwesen im texanischen Austin hat einen Wert von zehn Millionen Dollar, spanischer Kolonialstil, 725 Quadratmeter Wohnfläche, ein Idyll, alles perfekt, scheinbar. Doch seinem Besitzer Lance Armstrong gefällt der Standort einer riesigen Eiche nicht. Also lässt er sie 50 Meter nach Osten verpflanzen, das kostet 200 000 Dollar, ist es ihm aber wert, weil es sein Wille ist, der zu geschehen hat. Und er geschieht. Wie auch beim Auftakt des Cascade-Classic-Rennens in den USA. Ein Kinder-Wettkampf ist angesetzt, Armstrong soll die Kleinen begleiten. Fünfjährige sind dabei und auch ein Zehnjähriger, der die Führung übernimmt. Armstrong, wieder zurück nach seiner Krebserkrankung, übersprintet den Jungen noch vor der Ziellinie und gewinnt das Rennen. Er hasst es zu verlieren.
Und gönnt selbst Kindern bei Wohltätigkeitsveranstaltungen keinen Erfolg gegen sich. Weil es sein Wille ist. Und der geschieht. Das war 1998. Ein Jahr vor seinem ersten Tour-de-France-Sieg, bei dem er ähnlich gnadenlos sein Werk verrichtete.
Seine Gegner dominierte er vor 20 Jahren, er gewann souverän, war überzeugend in allen Facetten des härtesten und bedeutendsten Radrennens der Welt. Und nicht nur Kenner der Szene fragten sich: Wie ist das möglich? Kann das wahr sein?
Doch für den Texaner Armstrong, zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt, liefen die Dinge großartig. Er war ein Held, auferstanden von den Todgeweihten, er hatte eine am 2. Oktober 1996 diagnostizierte Hodenkrebserkrankung samt Metastasen in der Lunge, im Bauchraum und im Gehirn überstanden, was ihn zu einem Lazarus der Sportwelt aufsteigen ließ, der zugleich Millionen von Krebspatienten weltweit Hoffnung gab, dass sich diese Krankheit überwinden lässt und ein tolles Leben danach möglich ist. Was für eine Story!
Armstrongs Erscheinen fügte sich glänzend in die Tour-Propaganda jenes Jahres, die von einem „Rennen der Erneuerung“ träumte und es für 1999 annoncierte. Denn 1998 hatte die Frankreich-Rundfahrt eine Tour de Farce durchlebt, ein Doping-Rennen mit Ausschluss des Top-Teams Festina wegen des Einsatzes verbotener Substanzen, mit Polizei-Razzien, aus dem Rennen fliehenden Teams und streikenden Fahrern.
Nun aber erschien ein Krebs-Überlebender, sauberer ließ sich ein Teilnehmer nicht denken, und gewann das Rennen. Und wieder: Was für eine Story!
Gleichwohl werden die Tour-Verantwortlichen zum Start ihres neuen Rennens an diesem Samstag in Brüssel gewiss nicht Lance Armstrongs gedenken, der sie vor 20 Jahren vermeintlich erlöste. Obwohl die Tour-Historiker ansonsten gerne an jeden runden Geburtstag erinnern. Denn: Die Armstrong-Saga ist eine Lügengeschichte.
Die Welt staunt, die Zuschauer jubeln
Armstrong, mindestens sieben Kilo leichter als vor seiner Erkrankung, gewinnt im Sommer 1999 den Tour-Prolog, Gelbes Trikot am ersten Tag. Die Welt staunt über den neuen Star des Radsports. Die Zuschauer jubeln. Die Tour-Organisatoren feiern ihr Glück und das Armstrong-Epos. Der ist auch beim Zeitfahren in Metz, achte Etappe, nicht zu schlagen. Das zuvor abgegebene Gelbe Trikot erobert er zurück und behält es bis zum Ende. Als er aber auch bei der nächsten Etappe in den Alpen der Beste ist, nimmt die Skepsis zu. Derart unangestrengt fliegt Armstrong mit Spinning-Tritten die Serpentinen auf dem Weg nach Sestriere in Italien über die Pässe, dass es alle erstaunt. Dass er auch in den Bergen dominiert, ist neu. Auch die vorletzte Etappe, wieder ein Zeitfahren, gewinnt Armstrong, ehe er sich am Tag danach auf den Champs-Élysées von Paris zum König des Radsports krönen lassen kann.
Armstrong sagt nach dem Rennen: „Das war nicht Hollywood, das war nicht Disney. Meine Story ist fantastisch, aber wahr. Ich bin ein sehr glücklicher Mensch und habe ein reines Gewissen.“ Er richtet sich auch an die Menschen, die gegen den Krebs kämpfen: „Wir können in unser vorheriges Leben zurückkehren – und es dabei noch besser haben.“ Das gilt zumindest für ihn, den nun reichen Mann aus Texas, ein Status, nach dem er sich stets gesehnt hat. Armstrong war sozialer Aufstieg wichtig, dazu Ruhm und Reichtum. Und die Möglichkeit, in edlen Restaurants zu speisen, in Fünf-Sterne-Hotels zu übernachten – oder Eichen zu versetzen. Er wusste zudem von Anfang seiner Profi-Radkarriere an, dass er den Weg aus den bescheidenen Verhältnissen, in die er hineingeboren worden war, nur mit seinem Sport schaffen konnte.
Massives Teamdopingsystem
Früh habe Lance Armstrong für sich entschieden, ohne Skrupel oder Reue vorzugehen, schreibt die US-Autorin Juliet Macur in ihrer im Edel-Verlag erschienenen, meisterhaft recherchierten Armstrong-Biografie mit dem Titel: „Lance Armstrong. Wie der erfolgreichste Radprofi aller Zeiten die Welt betrog“. Seit 1995 nahm er demnach Epo, ein Blutdopingmittel, das Ausdauersportlern eine ungeheuerliche Leistungssteigerung ermöglicht. An seinem Krankenbett sagte Armstrong 1996 vor ihm vertrauten Menschen, er habe folgende leistungssteigernde Substanzen eingenommen: „Wachstumshormon, Kortison, Epo, Steroide und Testosteron“, also das komplette Paket aus der Apotheke. War es das ganze Zeug, das Armstrongs Krebs wachsen ließ? Er bezweifelt das.
Armstrong wusste gleichwohl, dass er bei seinem Comeback wieder dopen musste, was ihn laut Macur aber nicht abgeschreckte. Im Gegenteil: Nach allem, was man durch den im Oktober 2012 veröffentlichten Bericht der US-Anti-Doping-Agentur Usada weiß, der Armstrong enttarnte, bauten seine Mannschaften ein „massives Teamdopingsystem“ auf, „das umfassender war als jedes zuvor entdeckte in der Geschichte des Sports“. Denn Armstrong gewann ja nicht nur 1999 die Tour, sondern auch noch 2000, 2001, 2002, 2003, 2004 und 2005. Sieben Mal in Folge. Ein surrealer Rekord.
Usada-Chef Travis Tygart schreibt in seinem Armstrong-Bericht, es handele sich bei den aufgedeckten Fakten um „das am meisten ausgeklügelte, professionellste und erfolgreichste Dopingprogramm, das der Sport jemals gesehen hat“. Das Urteil: lebenslange Sperre für Armstrong und Verlust aller seiner Siege seit dem 1. August 1998. Der Radsport-Weltverband (UCI) erkannte das Verdikt an. Es war nun gültig. Im Januar 2013 schließlich gab Armstrong bei der Talkmasterin Oprah Winfrey vor einem weltweiten Millionenpublikum öffentlich zu, gedopt zu haben. Er entlarvte sich als Lügen-Prediger für die vielen Krebskranken in der Welt, die sich an ihm orientiert hatten.
Armstrongs sieben Tour-Titel wurden gelöscht. Bald darauf postete er trotzig ein Bild auf Twitter. Es zeigt ihn, auf einem Sofa liegend, an der Wand sieben hell erleuchtete Gelbe Trikots, eines für jeden seiner Tour-Siege. Dazu stellte er einen Kommentar: „Bin wieder in Austin und hänge ab.“ In seiner Welt hält er sich für unbesiegbar.
Geblieben sind 100 Millionen betrügerisch erwirtschaftete Dollar
Der Führungsstil des arroganten Chefs war herrisch, Armstrong selbst war von Hybris und Herrschsucht befallen. Bis zu seiner Enttarnung gelang es ihm stets, die Dinge in seinem Sinne zu lenken, sein Wille geschah bei einstigen Teammitgliedern und Begleitern. Kritiker hingegen attackierte er und Rechercheure, die viele seiner Betrügereien bereits aufgedeckt hatten, brachte er mit einer Klagewelle zum Schweigen. Zudem profitierte er von Kontakten in die Politik, so dass eine Ermittlung – sein US-Postal-Team war eine staatliche Organisation – eingestellt wurde, ehe dann die Usada übernahm und ihr Urteil sprach.
Nun half Armstrong niemand mehr. Seine Sponsoren verließen ihn, Einnahmen in Höhe von 75 Millionen Dollar fielen weg. Auch seine Krebsstiftung musste er verlassen. Und weil er für US Postal fuhr, war noch ein Schadensersatzprozess anhängig. Der wurde 2018 nach einer Zahlung Armstrongs in Höhe von fünf Millionen Dollar an die US-Regierung eingestellt. Geblieben sind ihm nach eigenen Angaben 100 Millionen betrügerisch erwirtschaftete Dollar.
Juliet Macur hat Armstrong an dem Tag besucht, an dem er seine Villa in Austin verlassen und eines seiner Statussymbole aufgeben musste, weil er sie sich nicht mehr leisten konnte. Die Autorin erlebte einen trotzigen Mann, kämpferisch weiterhin, doch auch gebrochen, weil er seine lebenslange Sperre für alle Veranstaltungen in den olympischen Sportarten erhielt, was für ihn, dessen Lebenselixier Wettkämpfe sind, einem „Todesurteil“ gleichkommt. Sein Wille geschieht nicht mehr. Armstrongs wohl härteste Strafe.