Am Mittwoch starten in Paris die Paralympischen Spiele und die meisten deutschen Starter kommen aus NRW-Vereinen – darunter die Goldfavoriten Markus Rehm und Taliso Engel.
Leverkusener bei den ParalympicsGoldfavorit Rehm: „Wir zeigen tolle Leistungen, wir sind attraktiv“
Lise Petersen ist gerade 19 Jahre alt, und sie wird in Paris zum zweiten Mal bei Paralympischen Spielen dabei sein. Vor knapp drei Wochen war die einarmige Speerwerferin vom TSV Bayer 04 Leverkusen schon mal gucken in der französischen Hauptstadt. Teamsponsor adidas hatte eingeladen, um die Verlängerung des Ausrüster-Vertrags bis 2028 bekannt zu geben. Petersen stand zwischen Sprinterin Gina Lückenkemper und Beachvolleyballerin Laura Ludwig, beide mit olympischen Medaillen dekoriert, und fühlte sich offensichtlich pudelwohl. Sie sei „direkt total herzlich“ aufgenommen worden, erzählte Petersen. Einen Unterschied zwischen Team D Olympia und Team D Paralympics habe sie nicht gespürt, habe sie nie gespürt in ihrer Karriere.
Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbands (DBS), kennt andere Zeiten. Gern erzählt der umtriebige Funktionär und ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem Oberbergischen die Geschichte von 1992: damals fanden die Olympischen und Paralympischen Spiele in Barcelona statt und von den Paralympics sei im deutschen Fernsehen lediglich für eine halbe Stunde etwas in einer Gesundheitssendung zu sehen gewesen. In Paris hatte Beucher nun Postkarten dabei. Auf der einen Seite der Eifelturm und auf der anderen die umfassenden Übertragungszeiten von ARD und ZDF während der Paralympischen Spiele, die am Mittwoch eröffnet werden. Beucher verteilte die Karten großzügig. „Da geht einem das Herz auf“, sagte er: „In Riesenschritten sind wir dabei zu erreichen, was selbstverständlich ist.“
Markus Rehm, Klubkollege von Petersen und seit 2010 unangefochtener Dominator des Prothesen-Weitsprungs, verfolgt den Wandel und treibt ihn voran. Er arbeitet seit Jahren nicht nur an einem Neun-Meter-Sprung (sein Weltrekord steht bei 8,72 Metern), sondern auch am Image seines Sports. Und in der vergangenen Woche, an seinem 36. Geburtstag, feierte er einen wichtigen Etappensieg: Beim Diamond-League-Meeting in Lausanne gab es erstmals einen Wettbewerb für „Blade-Jumper“, wie Rehm seine Kollegen und sich selbst nennt. Rehm gewann mit 8,20 Metern vor Derek Loccident (8,05 Meter) aus den USA und reiste weiter nach Polen, wo am Sonntag ein zweiter Diamond-League-Auftritt anstand. Rehm siegte deutlich mit 8.03 Metern.
„Eine coole Show in die Grube zaubern“
Der Termin war nicht ganz günstig so kurz vor dem Beginn der Paralympics. „Aber diese Gelegenheit wollte ich mir nicht entgehen lassen“, sagte Rehm: „Die Diamond League ist die Königsklasse der Leichtathletik und ich finde, dass wir da auch hingehören.“ Immerhin sprang er in Lausanne weiter als Olympiasieger Miltiadis Tentoglou im Wettbewerb der Männer mit zwei Beinen, der Grieche flog auf 8,06 Meter. Und Rehm betonte: „Ich möchte nicht eingeladen werden, weil die Veranstalter ein bisschen Inklusion zelebrieren wollen, sondern weil meine Kollegen und ich eine coole Show in die Grube zaubern und das Publikum begeistern.“ Dieses Gefühl habe er in Lausanne bei seiner Diamond-League-Premiere gehabt. Und genauso will er auch seine vierten Paralympischen Spielen in Paris erleben.
Die Chancen stehen gut, denn die französischen Veranstalter zelebrieren die Olympischen und Paralympischen Spiele mehr denn je als Einheit. „Die Franzosen haben es geschafft, den Parasport schon bei Olympia stattfinden zu lassen, das treibt uns alle noch mehr an“, sagt Jörg Frischmann, Geschäftsführer der Parasport-Abteilung des TSV Bayer 04 Leverkusen und Kugelstoß-Paralympicssieger von 1992. Bei der olympischen Eröffnungsfeier etwa waren Para-Sportlerinnen und -Sportler sehr prominent in den Höhepunkt der Zeremonie eingebunden, die Entzündung des Feuers.
Oder das Maskottchen: es ist kein Plüschtier, sondern ein roter Plüschhut mit Beinen. Sein Aussehen ist der phrygischen Mütze entlehnt, die in Frankreich seit der Revolution als Symbol der Freiheit und der Demokratie gilt. Das Pariser Maskottchen heißt also „Phryge“, und der Name wird fast immer im Plural benutzt, „Les Phryges“ im Französischen. Denn es gibt zum ersten Mal nicht zwei verschiedene Maskottchen für Olympia und Paralympics, sondern Phryge in zwei Varianten: einmal mit zwei Beinen und einmal mit einem Bein und einer Beinprothese.
Beide waren schon während der Olympischen Spiele auf Plakaten und in den Merchandise-Shops präsent. Genauso wie beide Paris-Logos, die identisch aufgebaut sind: Oben die Flamme im goldenen Kreis, darunter der Schriftzug Paris 2024 – und dann für Olympia die fünf Ringe und für die Paralympics drei farbigen Bögen. Auf den schnellen Blick sind sie kaum zu unterscheiden. Viele große Sponsoren haben ihre Kampagnen für olympische und paralympische Athleten zusammengelegt, riesige Plakate mit Protagonisten beider Spiele hingen schon in den olympischen Tagen in Paris. „Warum auch nicht?“, fragt Rehm: „Wir zeigen tolle Leistungen, wir sind attraktiv.“
Ab Mittwoch geht die große Sport-Party an der Seine also einfach weiter. „Es wird ein bisschen anders, ein bisschen kleiner, noch familiärer – aber ganz sicher nicht schlechter“, sagt Stefan Kiefer, der Generalsekretär des DBS. Von den 143 deutschen Para-Sportlerinnen und -Sportlern starten 37 für Vereine in NRW, Petersen und Rehm sind Teil eines 20-köpfigen Bayer-Teams, 18 Starterinnen und Starter vom TSV Bayer 04 Leverkusen sind in Paris dabei und zwei vom RTHC Bayer Leverkusen. Damit präsentiert sich die Bayer-Stadt als Hochburg für den Spitzensport mit einer Körperbehinderung. Neben Rehm ist auch der Leverkusener Schwimmer Taliso Engel klarer Anwärter auf einen Sieg: Der 22-Jährige mit einer Sehbehinderung will in Paris seinen Titel über 100 Meter Brust verteidigen.
Jörg Frischmann freut vor allem, dass nicht nur Sichtbarkeit und Akzeptanz der Paralympischen Spiele so deutlich gestiegen sind, sondern auch das sportliche Niveau. In der Weltspitze hätten die Leistungen enorm angezogen, mit ein bisschen Hobbysport gelange man längst nicht mehr dorthin. Das mache die Nachwuchs-Rekrutierung schwieriger, da der Aufwand für paralympischen Spitzensport inzwischen genauso groß ist wie im olympischen Bereich. Aber Frischmann ist optimistisch: „Ich hoffe, dass die Paralympics uns in der Nachwuchsarbeit nochmal einen Schub geben, dass viele junge Leute mit einer Behinderung angestoßen werden, sich für Sport zu begeistern.“
549 Wettbewerbe mit rund 4.400 Athletinnen und Athleten
Die Paralympischen Spiele in Paris werden am 28. August eröffnet, die Wettbewerbe laufen bis zum 8. September. Rund 4.400 Athletinnen und Athleten aus 184 Nationen treten in 22 Sportarten gegeneinander an, es werden 549 Wettbewerbe ausgetragen. Die Mannschaft des Deutschen Behindertensportverbands (DBS) reist mit 143 Athletinnen und Athleten sowie fünf Guides (Begleiter für Menschen mit Seebehinderung) nach Paris.
Blindenfußball, Boccia, Goalball, Para Badminton, Para Bogensport, Para Dressursport, Para Gewichtheben, Para Judo, Para Kanu, Para Leichtathletik, Para Radsport, Para Rudern, Para Schwimmen, Para Sportschießen, Para Taekwondo, Para Tischtennis, Para Triathlon, Rollstuhlbasketball, Rollstuhlfechten, Rollstuhlrugby, Rollstuhltennis und Sitzvolleyball.
So viel Para-Sport live im TV wie nie zuvor
Wer nicht vor Ort dabei ist, kann im deutschen Fernsehen so viel paralympischen Sport live sehen wie nie zuvor: Die Eröffnungsfeier wird im ZDF übertragen und insgesamt werden die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF im täglichen Wechsel über 60 Stunden (plus mehr als 100 Stunden Live-Streaming) aus Paris berichten.
Die Paralympischen Spiele gehen auf die Stoke Mandeville Games zurück, die zum ersten Mal 1948 im englischen Aylesbury am Tag der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in London stattfanden. Damals maßen sich 14 kriegsversehrte Männer und Frauen, die auf Grund von Rückenmarksverletzungen im Rollstuhl saßen, im Bogenschießen. Die Idee dazu hatte der in Oberschlesien geborene und vor den Nazis geflohene Neurologe und Neurochirurg Ludwig Guttmann.
Den Namen „Paralympische Spiele“ tragen die Wettbewerbe seit 1960, damals traten in Rom 400 Athletinnen und Athleten aus 23 Ländern gegeneinander an. Seit 1976 gibt es auch Paralympische Winterspiele. Am selben Austragungsort wie Olympia werden die Paralympics seit den Sommerspielen 1988 in Seoul und den Winterspielen 1992 in Albertville durchgeführt.
Platz drei für Deutschland im ewigen Medaillenspiegel
Bei den Paralympics sind in erster Linie Menschen mit einem körperlichen Handicap startberechtigt. Nach einem Betrug im Basketball bei den Spielen 2000 in Sydney waren zunächst keine Menschen mit intellektuellen Einschränkungen mehr zugelassen – seit 2012 gibt es in der Para-Leichtathletik, im Para-Schwimmen und im Para-Tischtennis jedoch wieder einzelne Wettbewerbe für sie.
Im ewigen Medaillenspiegel der Paralympics belegt Deutschland mit 521 Gold-, 529 Silber- und 500 Bronzemedaillen Platz drei. Davor rangieren die USA und Großbritannien, es folgt China auf Platz vier, das Deutschland nur bei den Goldmedaillen schon überholt hat (529). Vor drei Jahren in Tokio kam Deutschland mit 43 Mal Edelmetall (13 Mal Gold/12 Mal Silber/18 Mal Bronze) auf Rang zwölf des Medaillenspiegels. China (207) führte klar vor Großbritannien (124) und den USA (104).