Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Merkles MeinungSuperstar in der Warteschleife

Lesezeit 4 Minuten

Der Kölner Orthopäde Dr. Emanuel Merkle.

Köln – Mario Götze hat bei dieser Europameisterschaft noch keine Minute auf dem Spielfeld verbracht. Das ist bemerkenswert, schließlich gilt der Mittelfeldspieler doch als Deutschlands Supertalent. Trotzdem saß er bislang nur auf der Ersatzbank. Der Grund: seine Erkrankung am Schambein, die er sich im Winter zugezogen hatte und wegen der er fast die gesamte Rückrunde bei Borussia Dortmund verpasst hat. Ich sage bewusst „Erkrankung“ – „Entzündung“ nennen es die meisten Spieler und auch Ärzte. Eine Entzündung ist es aus meiner Sicht aber gar nicht.

Es handelt sich nach meiner Überzeugung um einen Ermüdungsbruch in den vorderen Schambeinästen - eine sichere Diagnose kann erst eine MRT-Untersuchung bringen. Im Bericht des Radiologen heißt es dann aber: „Bone bruise“ im Schambeinast. „Bone bruise“, aha, das muss dann aber auch richtig übersetzt werden: es ist eine mikrotrabekuläre Fraktur im Knochen, also: it is broken! Und es muss dann eben auch als Bruch behandelt werden.

Eine lange Liste an Verboten

Dr. Emanuel Merkle ist Facharzt für Orthopädie in Köln und Brühl und behandelt zahlreiche Sportler. Er ist selbst passionierter Fußballspieler und hat neben Medizin auch Sport studiert. Während der EM schreibt er in seiner Kolumne für ksta.de regelmäßig über aktuelle Verletzungen der Spieler.

Zwangspause sind bei dieser Verletzung zunächst sechs Wochen, dann werden weitere Kontrollen per MRT durchgeführt. Diese Untersuchungen sollte man eventuell zwei bis drei Mal wiederholen. Während dieser Zeit darf kein Ausgleichstraining, keine manuelle Therapie, keine Reizstrombehandlungen, keine Stoßwellentherapie, kein Kortison, keine Dehnübungen, keine Physiotherapie, kein Fahrradfahren, kein Schwimmen und auch kein Training auf dem Laufband erfolgen. Eine lange Liste an Verboten also. Auch Tabletten mit viel Kalzium oder andere, die die Heilung beschleunigen sollen - wir zum Beispiel veabreichen auch Bisphosphonate intravenös - sind mehr als umstritten.

Immer wieder werden falsche Empfehlungen von allen Seiten gegeben: Eine Kräftigung der Rückenmuskulatur zum Beispiel, oder der Oberschenkelvorderseite, der Hüftadduktoren und der schrägen Bauchmuskulatur; um die Dysbalance auszugleichen. Diese Ansätze sind nur vor der Erkrankung sinnvoll - und nach der sicheren Ausheilung.

Die langen und unterschiedlichen Ausfallzeiten der Fußballer lassen sich eindeutig auf falsche Behandlung zurückführen, außerdem auf zu späte Erkennung, nicht eingehaltene Zwangspausen und die krampfhaften Versuche, mittels unterschiedlicher Methoden die Veränderung am Knochen zu beeinflussen. Bei Leistenschmerzen und bei unklaren Oberschenkelzerrungen oder verdächtigen Faserrissen wie bei Mario Götze im November 2011 musste bei seiner sportlichen Belastung schon früh an eine Schambeinbeteiligung gedacht werden.

Leichtes Übergewicht?

Im Januar 2012 wurde bei ihm die Diagnose dann gesichert. Nach neuneinhalb Wochen nahm Götze das Training wieder auf – erst nach 20 Wochen erfolgte der erste Bundesligaeinsatz nach der Verletzung. Eigentlich ist es bei Götze aber noch gut gegangen, die Ausfallzeit liegt im Rahmen. Wie ich gehört habe, kann er voll trainieren. Er ist aber nicht so fit, das der Bundestrainer ihn von Anfang an aufstellt. In einigen Zeitungen standen außerdem Andeutungen über leichtes Übergewicht.

Bei sehr vielen anderen Fußballern verläuft die Schambeinermüdungsfraktur frustraner. Bis zu sieben Prozent der Leistungssportler sind davon betroffen, darunter deutlich mehr Männer als Frauen. Das Durchschnittsalter der Verletzten liegt bei etwa 30 Jahren (nicht wie bei Götze mit 19 Jahren). Fußballer sind generell häufiger betroffen als andere Sportler.

Eine Operation ist meiner Meinung nach nie notwendig, außer es besteht tatsächlich und zusätzlich noch ein kleiner direkter Leistenbruch, wobei man dann in gleicher Sitzung die Adduktoren einkerben kann und die Schambeinäste kürettieren beziehungsweise denervieren (Ausschalten von Nervenrezeptoren) sollte.

Trotz aller Maßnahmen können die Symptome erneut auftreten, dann oft auf der Gegenseite. Unerlässlich ist die Differenzialdiagnostik, das heißt: Überprüfen des Rückens, des Beckens, der Beinlängen und der Leisten wegen möglicher direkter und indirekter Leistenbrüche oder Leistenhernien - besonders bei Jugendfußballern, um die Ursachen vom Schambeinproblem abzugrenzen.

Aufgezeichnet von Philip Sagioglou.