Jan Ullrich, der einstige Radsport-Held des Landes, kehrt mit einem Dopinggeständnis zurück in die Öffentlichkeit - und würde dort auch gerne bleiben.
„Ja, ich habe gedopt“17 Jahre Anlauf für das Geständnis von Radsport-Star Jan Ullrich
Es war 18 Uhr am Mittwoch, als Jan Ullrich auf der Bühne eines Münchener Kinos, den Satz sagte, auf den er seit 2006 hat warten lassen. Dessen Nichtaussprechen seine Seele beschwerte und ihn in die Manie eines Alkohol- und Drogen-Junkies trieb und ganz unten, in einer Gefängniszelle auf Mallorca, aufschlagen ließ. Bevor er die vier Worte vor dem Hintergrund eines Filmplakats mit dem Titel „Jan Ullrich – der Gejagte“ aussprach, holte er kurz Luft. Hob den Kopf. Weitete seine Augen ein wenig. Und ließ ihn dann raus, den Satz: „Ja, ich habe gedopt.“
Ullrich ist zu Gast in München, das „Lichtspieltheater am Sendlinger Tor“ ist der Premieren-Ort einer Dokumentation über den Sieger der Tour de France des Jahres 1997. Vier Teile à 45 Minuten, zu sehen ab dem 28. November bei Amazon Prime – „Jan Ullrich – der Gejagte“. Eine Botschaft mit doppeltem Boden, denn einerseits hat ihn die Öffentlichkeit gejagt, auf eben diesen Satz wartend. Zudem hat auch Ullrich sich gejagt, seine Gedanken, die sich aber nicht verjagen ließen. Sie quälten ihn, weil er sich nicht zu einem Geständnis durchringen wollte. Loyalität mit dem Metier führt Ullrich nicht erst seit Mittwoch in München als Begründung an, aber auch dort. Falsche Ratschläge. Rücksicht auf eigene Verträge. Zudem habe ihm 2006 nach seiner Verbannung aus der Tour wegen seiner Verstrickung in den Fuentes-Dopingskandal, da ging es um Blutdoping, die Kraft für ein Geständnis gefehlt.
Ullrich litt an Depressionen
Jetzt aber ist es raus, 13:23 Minuten dauert das Gespräch, das er auf dem Kino-Podium mit einer Moderatorin führt, zu diesem Zeitpunkt bereits. Ullrich sagt: „Das ist in der Doku auch schon klar geworden.“ Sein Doping-Konsum. Das Jetzt aber ist es raus, 13:23 Minuten dauert das Gespräch, das er auf dem Kino-Podium mit einer Moderatorin führt, zu diesem Zeitpunkt bereits. Ullrich sagt: „Das ist in der Doku auch schon klar geworden.“ Sein Doping-Konsum. Das stimmt, doch dort sagt Ullrich diesen entscheidenden Satz nicht ein einziges Mal mit dieser Bestimmtheit. „Ja, ich habe gedopt“, fehlte auch in den Interviews mit dem „Stern“ und dem „Zeit-Magazin“, die schon am Tag vor der Premiere veröffentlicht worden waren, doch dort sagt Ullrich diesen entscheidenden Satz nicht ein einziges Mal mit dieser Bestimmtheit. „Ja, ich habe gedopt“, fehlte auch in den Interviews mit dem „Stern“ und dem „Zeit-Magazin“, die schon am Tag vor der Premiere veröffentlicht worden waren.
Die psychische Not, „die Depression“, von der Ullrich im Zusammenhang mit seinen Versuchen spricht, die Gedanken an ein Geständnis zu überspielen, hätte er sich ersparen können. Wenn er früher geredet und seine Seele befreit hätte. Denn die Gedanken an die zwar verdrängte, aber nicht verscheuchte Vergangenheit, kehrten immer wieder zurück in Ullrichs Bewusstsein, schwärzten seine Gedankenwelt. Ullrich sagt: „Ich hätte schöne Jahre gewinnen können, hätte ich meine Geschichte früher erzählt.“ Die Doping-Beichte von Lance Armstrong im Januar 2013, seinem neuen Freund, der auch in der Doku spricht – voller Hochachtung über die Leistungsmaschine Ullrich – „wäre eigentlich ein guter Zeitpunkt gewesen, dass auch ich gestehe. Aber ich wollte keine schlafenden Hunde wecken. Der deutsche Radsport hatte sich damals gerade wieder erholt.“
Auch da wieder: „Ich hatte die Kraft nicht. Heute würde man sagen: Ich hatte die Eier nicht, mich wieder mit Anwälten und der ganzen Situation zu befassen.“ Kurze Pause. „Was total falsch war.“ Und: „Es sind viele Jahre vergangen. Es tut trotzdem noch gut.“
Angefangen hat Ullrichs Dopingkarriere im Juni 1996 vor der Tour de Suisse mit Epo. Vorher habe er nicht mithalten können mit den Besten, obwohl ihm alle Kollegen suggerierten, dass er, wie Armstrong es sagt, „der Auserwählte“ sei. Er habe sich noch nicht mal einen Vorsprung verschaffen wollen, es sei ihm, nach Blick ins Peloton und den gewonnenen Erkenntnissen über die dortige Spritz- und Schluckmentalität der 1990er Jahre – Epo war noch nicht nachweisbar – einzig „um Chancengleichheit“ gegangen. Darum, „mit gleichen Waffen in den Kampf zu ziehen“. Es habe Fahrer gegeben, die seien stark gewesen, und hätten es ohne Doping versucht, sagt Ullrich: „Bei denen muss ich mich entschuldigen.“ Vor den beiden folgenden Sätzen wischt er sich mehrfach den Schweiß von der Stirn: „Ich habe mich schuldig gemacht. Ich fühle mich auch schuldig.“
Das Schweigen hat ihn in den Wahnsinn getrieben, das lässt sich durchaus so sagen. Seine Frau Sara und die drei damals kleinen Kinder hätten ihn 2018 verlassen, er blieb allein in der seit 2015 gemieteten Finca auf Mallorca zurück und lebte das Leben eines Junkies: Whiskey, erst ein, dann bis zu zwei Flaschen am Tag. Kokain. Beides gleichzeitig. Rekorde wollte er aufstellen, absurden Quatsch, im „Stern“ sagt er, dass er sich in jener Zeit einige Challenges habe einfallen lassen: „Eine war, dass ich einen Weltrekord im Rauchen aufstellen wollte. Einmal habe ich 700 bis 800 Zigaretten am Tag durchgezogen. Die Typen um mich herum, diese Hyänen, haben applaudiert.“ Es gibt ein Video aus jener Zeit, das einen völlig zerstörten Menschen zeigt, der früher mal Jan Ullrich war, ein Ullrich-Phantom.
Eines Abends drang er auf Mallorca unerlaubt in eine Gesellschaft seines Nachbarn, des Schauspielers Til Schweiger, ein. Randalierte. Wurde von der Polizei abgeführt. Gefängnis. Danach: Entzug, Rückkehr nach Merdingen zu seinem Freund Mike Baldinger, der sich ehrlich um ihn kümmerte, ihn ins Leben zurückholte.
Rückfall in Cancun
Doch 2021, um Weihnachten herum, ein Rückfall. Lance Armstrong, alarmiert von Baldinger, flog im Privatjet nach Cancun in Mexiko, wo Ullrich nach einem Kuba-Urlaub auf Umwegen gestrandet war, um seinen Freund im Krankenhaus zu besuchen. Um ihn zu retten, wie Armstrong sagt. Einen Menschen Jan Ullrich, der erneut nur in seiner Hülle zu schlummern schien.
Die Arbeit an der Doku begann vor gut zwei Jahren, sie war verbunden mit einer Rückkehr an die Orte seiner Erfolge. Das alles habe ihn tatsächlich zurück ins Leben geholt, erzählt Jan Ullrich. Er reiste auch nach Cesenatico zu Familie Pantani, mit dem Vater besuchte er das Grab seines einstigen Konkurrenten Marco Pantani, Ullrich sah dabei erschüttert aus. Der Besuch sei ihm wichtig gewesen, weil er an diesem Beispiel spüren konnte, wie es ihm beinahe ergangen wäre. 2018 „habe er um Leben und Tod gekämpft“ – mit der Tendenz zum Tod. Letztlich habe er sich „für das Leben entschieden“. Großer Applaus von Marco Pantanis Mutter, die in München zu Gast ist. Sie kommt auch in der Doku zu Wort.
Nun, nach Konsultierung eines Psychologen, nachdem ihn Freunde und die Familie aufgefangen haben, nachdem er sich für die Doku endlich geöffnet habe, gehe es ihm besser, erzählt Ullrich.
Auf der Münchener Kino-Bühne sagt Ullrich zum Abschluss: „Ich gehe jetzt motiviert ins Leben.“ Und das mit den ihn jagenden Gedanken sei nun auch vorbei: „Ich fühle mich nicht mehr als der Gejagte. Das ist nun raus.“ Die Zeit der Ausschläge – „nach ganz oben als Radsport-Gott und dann nach ganz unten“ ins Gefängnis – wolle er nicht mehr erleben. Er habe Alkohol und Drogen aus seinem Leben verbannt, „ich bin gesund und clean“. Und: „Mir gefällt die Mitte ganz gut. Ich bin auf einem sehr guten Weg, sie zu finden.“ Ob er auch geheilt sei, könne er nicht sagen, nur so viel: „Mein Rucksack ist bedeutend leichter geworden.„Ich bin hungrig aufs Leben.“
Nach der Beichte ging Ullrich eine Etage nach oben, auf die Empore des Kinos, Begegnung und Smalltalk mit den vielen Wegbegleitern, die geladen waren und die in der Doku zu Wort kommen, von seinem ersten Trainer Peter Sager bis zu Jens Heppner. Armstrong habe auch kommen wollen, sagt Ullrich, sei aber wegen Thanksgiving verpflichtet gewesen, bei seinen Kindern zu sein.
Mit Armstrong veranstaltet Ullrich inzwischen Radcamps auf Mallorca. Irgendwas mit Rennrädern, das ist nun auch sein Wunsch für die Zukunft, nachdem er jetzt für sich reinen Tisch gemacht hat – und explizit nur für sich, andere Personen „ziehe ich nicht mit rein, auch wenn ich viel mehr weiß“: „Ich möchte mich nun einfach normal in der Öffentlichkeit bewegen können. Vielleicht kann ich auch mal wieder was im Radsport machen.“ Der sei im Übrigen viel sauberer als zu seiner Zeit. Erfahrung, sagt er, habe er genug. Das kann man wohl sagen. In jeder Hinsicht.