Sporthistoriker Stephan Wassong von der Sporthochschule in Köln über die ersten Olympischen Winterspiele vor 100 Jahren.
Winter-Olympia vor 100 JahrenKölner Sporthistoriker: „Das war alles sehr abenteuerlich“
Herr Wassong, vor 100 Jahren, am 24. Januar 1924, begab sich das IOC im Wortsinn auf Glatteis. Es rief eine Wintersportwoche aus, die letztlich zwei Wochen dauerte, und erklärte sie später nachträglich zu Olympischen Winterspielen. Was waren die Gründe für den Gang in den Schnee?
Diese Idee hatte einen sehr langen Vorlauf. Zunächst einmal hatte man schon 1894, bei dem Kongress in Paris, der schließlich die Wiedereinführung der Olympischen Spiele für 1896 in Athen beschloss, Eiskunstlaufen als Sportart vorgesehen. Der Plan war da, aber die Umsetzung konnte in Athen nicht gelingen. 1908 in London und 1920 in Antwerpen gab es dann auch im Programm der Sommerspiele Wettkämpfe im Eiskunstlaufen, 1920 sogar auch im Eishockey. Wintersport insgesamt war aber zur Zeit der Wiedereinführung der Olympischen Spiele aber noch nicht so verbreitet, auch institutionell gab es kaum Strukturen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es aber zu einer langsamen Popularisierung und zu einer Verbreitung des Wintersports, zu Vereins- und Verbandsgründungen. Beim IOC, dem Internationalen Olympischen Komitee, ist der Wintersport eigentlich nie außen vor gewesen. Seit 1911 gab es immer mal wieder Vorstöße. Doch es gab Schwierigkeiten.
Das betraf vor allem die nordischen Länder.
Ja, richtig. Es gab seit 1901 die nordischen Spiele in Schweden mit unter anderem Skispringen, Langlauf, Nordischer Kombination, Eisschnelllauf und Eishockey. Da gab es schon den Vorschlag, diese Spiele in die Olympischen Spiele aufgehen zu lassen. Das traf aber auf Vorbehalte von schwedischer Seite.
Wie konnte sich die olympische Bewegung letztlich gegen die nordischen Spiele behaupten?
Beim IOC-Kongress im Mai 1921 in Lausanne hat Pierre de Coubertin, der Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit, gesagt, dass man nun die Winterspiele unbedingt positionieren müsse. Es entstanden Arbeitskommissionen, daraus entwickelte sich ein Momentum, so dass man sich bei der IOC-Session in Paris im Mai 1922 dafür entschieden hatte, für 1924 eine Art Versuchsballon zu starten – heraus kam die Wintersportwoche in Chamonix. Frankreich war deshalb Ausrichter, weil Paris die Sommerspiele für 1924 zugesprochen bekam, woraufhin das Land vorpreschte und sich bereit erklärte, eine Wintersportwoche zu organisieren. Die Schweden sind zurückgerudert und haben ihren Widerstand aufgegeben.
Warum hat man sich letztlich auf Chamonix festgelegt?
Das war ein logischer Schritt für die französischen Ausrichter. Chamonix war zu jener Zeit ein bereits bekannter Wintersportort mit touristischer Qualität und entsprechender Bettenanzahl für viele Athleten. Es gab insgesamt eine gute Infrastruktur, die nur noch etwas ausgebaut werden musste, und in Chamonix gab es bereits einen modernen Bahnhof. Mit der Vergabe der Spiele wurde auch die Eisenbahnlinie von Paris über Lyon ans Mittelmeer ausgebaut. In Chamonix hatten die Franzosen zudem bereits viele Wintersport-Wettkämpfe organisiert.
Ein Olympiastadion gab es dort aber noch nicht. Wie hat man sich da beholfen?
Es mussten nur noch wenige Anlagen neu gebaut werden – etwa die Bobbahn, das war damals eine Natureisbahn. Die Bahn war im Übrigen nicht gut abgesichert. Es kam zu schlimmen Verletzungen von Arm- bis zu Schädel-Basis-Brüchen. Die Bobs waren Vier- oder Fünfsitzer, das heißt, es war egal, ob vier oder fünf Mann im Bob saßen, meist haben sich die Teams für vier Starter entschieden. Einen Seitenschutz gab es nicht. Das war schon alles sehr abenteuerlich. Die Sprungschanze musste ebenfalls errichtet werden, das war damals aber ein Gerüst aus Holz, das ging eigentlich ganz schnell. Man hat zudem den durch Chamonix fließenden Fluss Arve umgeleitet und eine große Eisfläche mit Eisring gebaut. Das Areal wurde auch als Stadion genutzt, weil dort auch noch Tribünen aufgebaut wurden. Auf diesem Gelände wurden die Wettbewerbe im Eiskunstlaufen, im Eisschnelllaufen und Curling ausgetragen. Für 1924 finde ich es schon gewaltig, mal eben einen Fluss umzuleiten.
Zur Eröffnung kamen allerdings nicht allzu viele Menschen, nur 287 Zuschauer hatten sich auf den Tribünen eingefunden…
… insgesamt waren 10 000 Zuschauer während der gesamten, zwei Wochen dauernden Spiele zugegen. Die Eröffnungsfeier begann in der Stadthalle, danach begab sich eine Parade der teilnehmenden Nationen zum Stadion, ich nehme an, dass sich die Zuschauer auf der Strecke verteilt hatten. Die Bahnen, die Zuschauer zu den abgelegenen Wettkampforten brachte, fuhren allerdings nur einmal pro Tag. Das erklärt auch die relativ geringe Zuschauerzahl.
Insgesamt hatten 281 Athleten aus 16 Ländern gemeldet, darunter waren nur 13 Frauen, die auch wiederum nur im Eiskunstlauf an den Start gingen, im Einzel und im Paarlauf. Warum so wenige, und warum diese Einschränkung?
Im IOC herrschten damals durchaus konservative Denkweisen. Dass man sich für Eiskunstlaufen als Sport für die Frauen entschied, hatte vor allem ästhetische Gründe. Das IOC tat sich allerdings insgesamt sehr schwer mit der Zulassung von Frauen zu Wintersportwettbewerben. Erst 1948 wurden sie für Langlauf zugelassen, 1960 dann für Eisschnelllauf, 1998 für Eishockey und erst 2002 für den Bobsport.
Mit dabei war 1924 in Chamonix Sonja Henie aus Norwegen, eine Ikone des Eiskunstlaufens, die damals mit elf Jahren ihr olympisches Debüt gab.
Sie war ursprünglich nicht qualifiziert, sie ist aber nachgerückt, weil eine andere gemeldete Frau ihre Teilnahme abgesagt hatte. Sonja Henie durfte, weil sie erst elf Jahre alt war, als einzige Starterin einen kurzen Rock tragen. Sie zeigte damals schon außergewöhnliche Sprünge. Sie wurde letztlich Achte von acht Starterinnen. Die anderen fünf gemeldeten Frauen starteten im Paarlauf. Von 1928 bis 1936 wurde Sonja Henie schließlich drei Mal in Folge Olympiasiegerin im Eiskunstlauf.
Es gab Bob, Curling, Eishockey, Eiskunstlauf, Eisschnelllauf, Militärpatrouille und Ski nordisch im Programm. Ski alpin fehlte noch.
Ja, das kam erst 1936 bei den Olympischen Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen dazu. Und die Militärpatrouille, der Vorläufer des Biathlon, war in Chamonix eine Demonstrationssportart.
Es gab damals mit dem finnischen Eisschnellläufer Clas Thunberg und mit Thorleif Haug, dem norwegischen König des nordischen Skisports, zwei Sporthelden, die drei olympische Goldmedaillen gewannen. Wurden die beiden auch als Stars wahrgenommen?
Haug hat im Langlauf über die 18- und 50-Kilometer-Distanz gewonnen und zudem die nordische Kombination, das war damals ein herausragender Athlet. Nach den Maßstäben der damaligen Zeit war er ein Superstar, allerdings nicht unbedingt medial. Thunberg war ebenfalls eine sehr anerkannte Person, nicht nur in seiner Heimat.
Zur Schlussfeier ist auch Coubertin erschienen. Was hat er bei dieser Gelegenheit gesagt?
Er war begeistert von den sportlichen Leistungen und der Atmosphäre, das war für ihn sogar entscheidend. Seine Bewertung war sehr positiv. Das hatte dann zur Folge, dass das IOC 1926 entschieden hatte, die Wintersportwoche rückwirkend zu Olympischen Spielen zu erklären. Der Vierjahresryhthmus sollte auch für diese Variante gelten, allerdings mit einer eigenen Zählweise, beginnend ab 1924. Das ging so bis 1992 in Albertville, ehe sich das IOC entschloss, ab 1994 die Winterspiele in Jahren auszutragen, in denen keine Sommerspiele stattfinden. Das zeigt, dass die Winterspiele an Bedeutung und Eigenständigkeit gewonnen haben.
Die Kommerzialisierung wird allerdings der wohl triftigste Grund für diesen Wechsel gewesen sein.
Natürlich, absolut.
In der Rückschau: Wie würden Sie die Veranstaltung von Chamonix 1924 bewerten?
Sie war ein Meilenstein. Dadurch hat sich der Wintersport weiter institutionalisiert, weitere Weltverbände in Wintersportrarten gründeten sich, so dass diese Woche eine große Wirkung hatte. Hinzu kam auch eine gewisse Wirkung auf die Öffentlichkeit.