Tristan Simon wurde in Köln geboren und wuchs in der Ukraine auf. Ein Song von AnnenMayKantereit wurde zum Sehnsuchtslied für den 18-Jährigen. Jetzt lebt er wieder in Köln.
Von der Krim zurück nach KölnWie „Tommi“ für einen jungen Ukrainer zum Sehnsuchtslied wurde
Tristan Simon steht vor dem Montessori-Gymnasium in Bickendorf, die Schülerinnen und Schüler schwirren am Nachmittag durchs Schultor, die Sonne scheint, Tristan zittert, als sei er nervös oder friere. Er sagt: „Das Zittern war in den vergangenen Monaten viel stärker, jetzt komme ich endlich zur Ruhe. Ich bin angekommen. Endlich habe ich ein freies Leben.“
Die Pupille seiner hellen Augen ist gelb umrahmt, vielleicht ist da auch deswegen sofort der Gedanke, hier lässt sich ein Mensch in die Seele blicken. Aber vor allem liegt es daran, dass dieser 18-Jährige, der bis November im Kriegsgebiet auf der Krim gelebt hat, sein überspringendes Herz auf der Zunge trägt: Er spricht von neuen Freunden, mit denen er Karneval feiern gehe, einer wunderbaren Schulleiterin, die ihm eine Gastfamilie vermittelt habe, der Familie, die ihm – ohne eine Gegenleistung zu wollen! – ein Zimmer gegeben habe und „mich behandelt wie ein eigenes Kind“; er erzählt von einer Gitarre, die ihm ein neuer Freund geliehen habe, einer Programmiersprache, die er lernen wolle, den vielen Bars und Restaurants in Köln, den Konzerten, der deutschen Musik, all dem, was „ich jeden Tag ausprobiere und entdecke“.
Er erzählt von Vertrauen und Freiheit in Zeiten des Krieges, der Vertrauen und Freiheit zerstört - und der da begann, wo er lebte.
Vater Deutscher, Mutter Ukrainerin
Tristan Simon ist in Köln zur Welt gekommen, „evangelisches Krankenhaus Kalk“, die Mutter Ukrainerin, der Vater Deutscher. Als er sechs ist, entschließen sich die Eltern, in die Ukraine auszuwandern. Sie wollen eine Pension eröffnen und landen bei einer Reise durchs Land auf der Krim. Auf der Halbinsel wird Russisch gesprochen, Tristan spricht Deutsch und Ukrainisch, in der Schule sei das anfangs schwer gewesen, sagt er, „aber ich habe schnell Russisch gelernt, die Kinder mochten mich dann, es war ok“.
Seine Eltern fanden ein baufälliges Haus, gestalteten es zur Pension, verstanden sich aber schon bald nicht mehr. Tristan nennt es „einen Familienkrieg, der immer brannte“. Er verwendet oft Metaphern, die sprachlich nicht ganz stimmen, aber trotzdem sehr gut passen.
Der Vater ging zurück nach Deutschland, die Mutter hatte kaum Geld – und dann begann mit der Annexion der russischen Armee 2014 der Krieg auf der Krim. „Gemerkt haben wir das eigentlich nur daran, dass wir in der Folge mit Rubel gezahlt haben“, sagt Tristan, „es kamen weniger Touristen, wir hatten noch weniger Geld und es war langweiliger als es sowieso schon war“.
Einmal, im vergangenen August, habe er in der Ferne eine Explosion gesehen, er zeigt ein Video, „ansonsten war nur klar, dass es gefährlich werden könnte – und dass man nicht mehr frei Richtung Süden reisen konnte“. Tristan hat im Frühjahr 2022 Abitur gemacht, sein Plan, zurück nach Deutschland zu gehen, reifte viel früher. „Seit der Pubertät habe ich mich gefangen gefühlt auf der Krim, die Menschen schienen jeden Tag Weltmeisterschaften auszutragen, wer die griesgrämigste Grimasse macht“, sagt er lachend, „niemand war offen, niemand schien glücklich zu sein“.
Kölner Sehnsuchtslied: „Tommi“ von AnnenMayKantereit
Tristan wollte unbedingt glücklich sein. Also habe er begonnen, sein Deutsch zu verbessern. Deutsche Bücher zu lesen und deutsche Musik zu hören. „Tommi“ von AnnenMayKantereit sei ein Sehnsuchtslied für ihn geworden – in dem Lied geht es um Heimweh nach Köln.
Nach dem Abitur, habe seine Mutter gesagt, solle er tun, was er wolle, um glücklich zu werden. Als er das deutsche Sprach-Diplom erwarb, lernte er einen Prüfer kennen, der ihn bestärkt habe: Es sei möglich, nach Deutschland zu gehen, um dort zu studieren, immerhin habe er einen deutschen Pass. Der Rest werde sich finden. Zu seinem Vater hatte er keinen Kontakt mehr, seit der im Streit zurück nach Deutschland gegangen war. Es gab nur einen Onkel, der nach der Flucht aus Cherson in Senden bei Münster lebt.
Tristans Kinderreisepass war längst nicht mehr gültig, einen deutschen Personalausweis hatte er nicht. Um einen Pass zu beantragen, musste er von der Krim aus zur deutschen Botschaft nach Moskau fahren – 30 Stunden mit dem Zug. Zum Glück habe er Freunde in der russischen Hauptstadt gehabt, bei denen er umsonst wohnen konnte, erzählt er. Wieder so ein Glück. „Dann hatte ich Angst, dass ich von der Botschaft zurückgeschickt werde, aber ein Beamter dort guckte auf meine Geburtsurkunde und den abgelaufenen Reisepass und sagte, in sechs bis acht Wochen könnte ich meinen neuen Pass abholen."
Um den Flug nach Deutschland zu bezahlen, arbeitete Tristan auf der Krim in einer Kantine, 15 Stunden am Tag, von 6 Uhr morgens bis 21 Uhr am Abend, Tageslohn 25 Euro. „1000 Euro habe ich gebraucht – und meine Mutter hatte nichts, die Pension war längst geschlossen. Sie arbeitete in Russland als Köchin, um Geld zu verdienen.“
Tristan war im vergangenen Jahr meist allein auf der Krim, im Sommer war auch seine Freundin zum Studieren nach Russland gegangen. „Wir haben uns getrennt, weil wir wussten, dass es keinen Sinn machen würde, es aufrechtzuerhalten“, sagt er, und hört sich dabei viel älter als ein 18-Jähriger an.
Tristan Simon: „Immer sind neue Türen aufgegangen, wie durch ein Wunder“
Die Mail von der Botschaft, dass der Ausweis da sei, habe er beim Fitnesstraining bekommen. „Ich hatte gerade Sit-ups gemacht“, sagt Tristan im Park vor dem Montessori-Gymnasium lachend. „Ich konnte meinen Augen nicht glauben, plötzlich hatte ich die Karte ins Leben.“
Am gleichen Tag buchte er ein One-Way-Ticket, Zug nach Moskau, Flug nach Ankara, von dort nach Istanbul, von Istanbul nach Köln. Kurz vor dem Abschied von der Krim habe eine alte Kölner Freundin der Mutter gesagt, Tristan könne zuerst bei ihr wohnen, kein Problem, „immer sind neue Türen aufgegangen, wie durch ein Wunder“. Nach der Ankunft in Köln am 23. November habe diese Frau, die er nicht kannte, sofort eine Bolognese für ihn gekocht und ihm ein Zimmer gezeigt.
In den ersten Tagen sei er jeden Tag zum Dom gefahren, und nach Kalk, „ich habe genau gewusst, wo unser Haus stand, obwohl ich sechs war, als wir weggingen“, sagt Tristan Simon, „und dann habe ich am Rhein gestanden und Tommi gehört“. In dem Lied geht es auch um die Sehnsucht nach dem Fluss. In dem Bad der Glückstränen, die ihn überkamen, scheint er bis heute zu schwimmen.
Auch, weil sich die Dinge, die er suchte, weiter fügten. Sein Sprach-Prüfer kontaktierte den „Kölner Stadt-Anzeiger“, der mit der ukrainischen Lehrerin Mariya Kautz sprach, die sich bei Kolleginnen umhörte wegen eines Schulplatzes – und einen fand am Montessori-Gymnasium in Bickendorf. Über die Schulleiterin fand sich eine Gastfamilie – „das war ein paar Stunden, nachdem ich meinen Lebenslauf vorbeigebracht hatte“.
Tristans Abitur von der Krim wird nicht anerkannt, weil das Regime unter ukrainischen Sanktionen steht. Würde es anerkannt, könnte er mit seinem Abitur in Deutschland ein Jahr ein Studienkolleg besuchen, um dann zu studieren. Jetzt geht in die zehnte Klasse und macht die Oberstufe ab Sommer noch einmal. „Das finde ich aber gar nicht schlimm, weil ich mein Deutsch verbessern muss und so zwei Jahre Zeit habe, hier anzukommen und alles auszuprobieren“, sagt er. „Ich habe jetzt ein zweites, ein richtiges Leben, und davon will ich jede Pore genießen.“ Tristans Zittern hat, als er das sagt, fast aufgehört.
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