ADHSHilfe für auffällige Kinder
Köln – Schon drei Konferenzen gab es wegen Felix’ (Name geändert) Verhaltensproblemen. Jetzt droht dem neunjährigen Drittklässler ein Förderschulverfahren. Felix' Eltern setzen all ihre Hoffnungen auf das Kölner Therapiezentrum (KTZ).
Felix kommt mit seiner Mutter zum Erstgespräch. Der Junge würdigt sie dabei keines Blickes, spricht nicht mit ihr. Die Mutter weint. Felix macht dicht und schweigt. Beim zweiten Termin bringt sein Opa Felix zur Einzelstunde beim Therapeuten. Ein Heilpädagoge spricht mit ihm und Felix fasst nach einiger Zeit Vertrauen. Er sagt: „Mein Vater ist nie da und meine Mutter geht mir nur noch auf den Zeiger.“ Der Therapeut analysiert genau, wo die Probleme in der Schule liegen, welches Felix eigene Anteile sind, wie die Grundschullaufbahn zu retten ist und was Felix selbst sich wünscht.
Im Laufe der Termine stellt sich heraus, dass der Junge zusätzlich Hilfe eines Kinder- und Jugendpsychiaters braucht. Das Ergebnis lässt nicht lange auf sich warten: Felix hat eine Aufmerksamkeits-Defizitstörung (ADHS). Er verhält sich in der Schule auch deshalb so aggressiv seinen Mitschülern gegenüber, weil niemand weiß, wie mit dem Jungen umzugehen ist.
Kölner Therapiezentrum
21 Mitarbeiter beschäftigt das Kölner Therapiezentrum (KTZ). Die Ergotherapeuten, Logopäden, und Heilpädagogen des KTZ arbeiten eng mit Kinderärzten und -psychiatern zusammen. Das KTZ gibt es mittlerweile an sechs Kölner Standorten. Hier werden verhaltensauffällige, motorisch und sprachlich auffällige Kinder getestet und gefördert.
Manche der KTZ-Standorte in Ehrenfeld, Vogelsang, Chorweiler, Mülheim, Porz und Höhenberg sind direkt an eine Grundschule angebunden.
Etwa 500 Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren werden pro Quartal behandelt – etwa 50 mehr, als bewilligt und finanziert werden. Voraussetzung ist eine Verordnung vom Kinderarzt.
Die Finanzierung des ergotherapeutischen und logopädischen Angebots übernehmen die Krankenkassen, die Stadt Köln trägt die heilpädagogischen Angebote. Der Rest wird durch Spenden gestemmt, auch von „wir helfen“.
www.koelner-therapiezentrum.de
Noch nie eingeladen
Felix hat Glück: Im KTZ ist er mit seiner Diagnose genau an der richtigen Adresse. Hier werden Kinder mit ADHS betreut und behandelt, aber auch Wahrnehmungs-, Sprachstörungen und motorische Auffälligkeiten werden therapiert. „Der Bedarf ist riesig“, sagt der pädagogische Leiter des KTZs Alfred Getz. Manche der jungen Besucher seien sozial isoliert. Getz: „Toll ist, wenn sie im Laufe der Behandlung Freunde finden und zum Beispiel zum ersten Mal zu einem Geburtstag eingeladen werden.“
Viele der Kinder waren vorher nicht in der Lage, mit Gleichaltrigen auszukommen. So wie Felix. Nach dem ersten Gespräch nimmt sein neuer Therapeut Kontakt zur Schule auf, zur Schulsozialarbeiterin und Klassenlehrerin. Felix lässt sich auf die Behandlung im KTZ ein. Jede Woche bespricht er mit dem Pädagogen seine Verhaltensmuster und wie er in der Schule künftig anders reagieren kann. Auch in einer Konferenz ist der Therapeut anwesend, Felix erhält eine letzte Chance.
Eltern einbinden
Parallel zur Behandlung finden Gespräche mit Felix' Eltern statt. Der Vater bemüht sich, künftig abends früher nach Hause zu kommen und mehr am Familienleben teilzunehmen. „Wir müssen die Eltern ganz klar mit ins Boot holen“, sagt Getz. „Wenn wir nur am Kind arbeiten würden, wäre das als würde man bei einem defekten Auto lediglich einen Reifen wechseln.“
Ein weiteres Angebot im Therapiezentrum sind die Kleingruppen. Hier üben drei bis sechs Kinder das soziale Miteinander. Sie lernen unter anderem, Kritik anzunehmen und zu äußern und mit schwierigen Situationen klarzukommen. „Nur Ergo- und Logotherapie, das reicht für viele Kinder heute nicht mehr aus“, weiß Getz. Viele Klienten kommen aus Migrationsfamilien, manche haben nie einen Kindergarten besucht und sprechen kein Wort Deutsch. Einige Eltern können weder lesen noch schreiben. Gut ist, wenn die Kinder im Gruppenangebot merken: Ich bin nicht alleine mit meinen Problemen. Das eine Kind lernt, sich mehr zurückzunehmen, das andere, sich mehr zu trauen. Getz: „Das geht nicht über Nacht, das sind meist langwierige Prozesse.“ Die meisten Kinder merken nach einer Zeit in der Gruppe: Aha, ich kann auch anders reagieren. Bei einem Konflikt kann ich reden und muss nicht direkt zuschlagen. „Das sind Dinge, die für viele Kinder selbstverständlich sind, für unsere Kinder aber nicht“, sagt Getz.
In Sandalen zum Herbstausflug
Viele von ihnen haben bisher kein funktionierendes soziales System kennengelernt. Manche kommen zum Herbstausflug barfuß in Sandalen. Und bei ihren Hausbesuchen treffen die KTZ- Mitarbeiter in vielen Familien auf die gleiche Szenerie: Die ganze Zeit läuft der Fernseher. Das Smartphone ist im Dauereinsatz. „Dann raten wir: Machen Sie die Geräte mal aus. Gehen Sie mit den Kindern in den Park, auch abseits der öffentlichen Wege. Sammelt Äste, Stöcke und Steine und lasst euch ausreichend Zeit. Kein Kind wird dabei das Handy vermissen.“
Bei Felix läuft es inzwischen besser. Therapeut, Schulsozialarbeiterin und Klassenlehrerin tauschen sich regelmäßig aus, ziehen an einem Strang. Es gibt erste positive Rückmeldungen aus der Schule. Das stärkt das Selbstwertgefühl des Neunjährigen enorm. Nach einem halben Jahr intensiver Arbeit bringt die Mutter Felix nun zur Therapie. Sie sprechen miteinander – und lachen viel. Heilpädagogik ist Vertrauensarbeit. Und im Gegensatz zum Glauben vieler Eltern wächst sich eine motorische, eine sprachliche oder eine Verhaltensstörung nicht einfach aus.
Wachsende Stadt engt Kinder ein
Verändert haben sich laut Getz die Störungsbilder in den vergangenen Jahren nicht. Nur das Umfeld der Kinder würde enger. Immer weniger Plätze zum Spielen an der frischen Luft, das sei vor allem für Jungs problematisch. „Unsere Stadt wächst, aber die Systeme kommen nicht mit.“
Ginge es nach Getz und Kollegen, müsste die Versorgung der Kinder im KTZ langfristig gesichert werden: „Die Stadt versucht viel zu tun, aber es reicht leider nicht.“ Je früher die Hilfe einsetzt, desto besser kann sie wirken – damit die betroffenen Kinder irgendwann auch ohne Unterstützung klarkommen.
Felix ist in den vergangenen Wochen aufgeblüht. Aus seiner Schule kommen kaum noch negative Rückmeldungen. Seine Noten haben sich inzwischen im Dreier- und Zweierbereich eingependelt. Schulkonferenzen? Sind kein Thema mehr!