Canyon ChorweilerIm Ring für das Leben lernen
Köln – Erwartungsvoll und geschafft schauen 22 junge Männer auf Trainer Kaschif Butt. Zuvor haben sie schon etwa eine Stunde lang auf Boxsäcke und Weichbodenmatten eingeschlagen oder gegen imaginäre Gegner geboxt. Dann ruft Butt: „Runter auf den Boden! Wir machen Liegestütze!“, und begibt sich selbst in die Ausgangsposition der Übung. Seine Schüler machen es ihm nach. Der Trainer zählt bei jeder Wiederholung laut mit, einige verziehen mit jedem Mal mehr vor Anstrengung ihre Gesichter, durch ihre T-Shirts drückt sich der Schweiß.
Es ist Freitagabend in der Kletterhalle Canyon in Chorweiler-Nord. Jeden Freitagabend findet dort von 20 bis 22 Uhr ein Boxtraining für Jugendliche und junge Erwachsene ab 16 Jahren statt. Dann wird der Multifunktionsraum der Kletterhalle zum Boxstudio umgebaut: Im vorderen Teil des Raums lehnen neben einem Boxring blaue Matten an der Wand, dahinter baumeln vor einem großen Spiegel zwei Boxsäcke von der Decke. Neben körperlichen Übungen wie Liegestützen und Sit-ups werden im Sparring auch kleine Kämpfe eins gegen eins trainiert – mit Kopf- und Mundschutz und unter Aufsicht des Trainers.
Der Canyon Chorweiler ist bundesweit die erste gemeinnützige Stadtteilwerkstatt und Kletterhalle. Unter einem Dach befinden sich dort eine große Kletterhalle mit Hochseilgarten, ein Zirkus, Räume für Tanz, Theater und Musik, ein Malraum und ein Ergo-Therapiezentrum.
Zusammen mit der Stadt Köln und dem Land NRW fördert der Canyon seit 2006 gemeinschaftliches Leben im Stadtteil Chorweiler und ist öffentlich anerkannter Träger der freien Jugendhilfe. (beq)
Aus einer Stereoanlage ertönen leise die Beats von amerikanischen Hip-Hop-Größen, auf einem Smartphone am Rand zählt ein Countdown die vorgesehene Zeit für die einzelnen Übungen runter. Bei null angekommen, erklingt jedes Mal aus dem Telefon ein Gong, wie er auch bei richtigen Boxkämpfen zwischen den Runden zu hören ist.
Hassan Fakhir steht in Sportkleidung etwas abseits und schaut zu, wie die jungen Männer trainieren. Sportlich aktiv wird er selbst nicht: Fakhir ist pädagogischer Mitarbeiter, begleitet das Projekt und ist Ansprechpartner bei Fragen jeder Art. „Die Jungs fragen mich beispielsweise, wenn sie Hilfe bei Bewerbungen brauchen oder nicht wissen, wo sie mit Fragen zu Jobs und Wohnungen hingehen können“, erzählt der 36-Jährige, der selbst in Chorweiler aufgewachsen ist und tagsüber Logistik an der Fachhochschule in Deutz studiert. Kann er nicht weiterhelfen, vermittelt er die richtigen Anlaufstellen und stellt Kontakt zu den Streetworkern des Viertels her.
Er erzählt, das Boxtraining werde gut angenommen, die Teilnehmer kämen meist überpünktlich. „Und wenn es ausfällt, habe ich sofort etliche Anrufe auf dem Handy.“ Es geht hier bei weitem nicht nur um Sport. Beim Training werden Freundschaften geknüpft und Konflikte beigelegt. Die jungen Männer sprechen mit ihm auch über ihre Sorgen in der Familie, in der Schule oder auf der Arbeit: „Beim Training bekommen wir mit, wenn jemand Probleme mit seiner Freundin oder der Familie hat, und können darauf reagieren“, sagt Fakhir. Gleiches gelte, wenn es draußen auf der Straße zu Konflikten oder Schlägereien komme. „Dann wissen wir sehr schnell davon und konfrontieren die Jungs damit.“
Über Hassan Fakhir hat auch Baris Züllam von dem Sportangebot in Chorweiler-Nord erfahren. „Das Training hält vor allen Dingen fit“, sagt Züllam, während er seine Boxhandschuhe auszieht. Der Schweiß steht ihm in Perlen auf der Stirn. Seit etwa einem Jahr kommt der 21-Jährige aus dem benachbarten Blumenberg zum Boxtraining in die Kletterhalle. „Wenn möglich, komme ich wirklich jede Woche“, fügt Züllam hinzu. Tagsüber arbeitet er bei einem Onlineversand. Mit den anderen Teilnehmern verstehe er sich sehr gut, das Training mache Spaß. Trainer Butt hält das Freitags-Training ebenfalls für eine gute Sache. Regelmäßig kommen etwa 20 Teilnehmer. „Aber ein Tag in der Woche ist zu wenig“, sagt der 41-jährige ehemalige Boxclub-Besitzer und Mittelrheinmeister von 2007. Dadurch blieben immer noch sechs Tage in der Woche übrig, an denen „sich die Jungs draußen rumtreiben und Dummheiten machen können“. Ob er für manche ein Vorbild sei, weiß Butt nicht. Am Anfang sei er nur der Trainer gewesen, inzwischen sei das Verhältnis mit „den Jungs“ aber „schon etwas enger“. Autoritätsperson ist er auf jeden Fall: Am Ende verabschiedet sich jeder Teilnehmer bei ihm persönlich per Handschlag.
Seit 2011 findet das Boxtraining in der Kletterhalle Canyon statt. Die Erstausstattung für das Training sowie der mobile Boxring konnten mit Geld des Stadtbezirks sowie „wir helfen“-Spendengeldern angeschafft werden. Laut Georg Daun, Mitarbeiter in der Kletterhalle, zeige das Angebot inzwischen große Wirkung. Daun ist Bindeglied zur Jugendarbeit im Bezirk, geht in Arbeitskreise und arbeitet eng mit Bezirks-Jugendpflegerin Martina Zuber-Goljuie zusammen. Die Jugendlichen selbst hätten sich ein Box-Angebot gewünscht. Daraufhin sei ein pädagogisches Konzept erarbeitet worden: Ziel des Trainings ist es laut Daun und Zuber-Goljuie, den Teilnehmern über den Sport Werte wie Toleranz, Respekt, Fairness und Disziplin zu vermitteln. Anfängliche Berührungsängste waren schnell überwunden, und auch andere Grenzen werden im Ring abgebaut: Ein Vater aus einem Flüchtlingsheim in Blumenberg hat seinen Sohn jetzt ebenfalls zum Boxtraining angemeldet.