ChancengleichheitIm digitalen Abseits
Frau Croll, mit der Verbreitung des Internets ging die Vision einher, dass der einfache Zugang zu Information und Wissen soziale Gleichheit fördert und die Bildungsmöglichkeiten aller verbessert. Wie steht es um die digitale Chancengleichheit unserer Kinder und Jugendlichen?
Zur Person
Jutta Croll ist Vorsitzende der Stiftung„Digitale Chancen“ und Projektleiterin "Kinderschutz und Kinderrechte in der digitalen Welt" mit Schwerpunkt Jugendschutz im Netz
Als wir vor 20 Jahren begonnen haben, uns dem Thema zu widmen, ging es rein darum, wie die Chancen, Zugang zu digitalen Medien zu haben, verteilt sind. Internetfähige PCs waren relativ teuer, mobile Endgeräte und W-LAN nicht weit verbreitet – ob junge Menschen Zugang zum Internet hatten oder nicht war abhängig vom Einkommen, Interesse und Bildungsstand der Eltern. Heute, in Zeiten, in denen nahezu jeder Haushalt, in dem Kinder leben, Internetzugang hat, geht es in der Gerechtigkeitsfrage mehr um die Medienkompetenz, um die Fähigkeit, Medien so zu nutzen, dass sie einen persönlichen Gewinn bringen. In diesem Punkt droht uns eine neue Spaltung, denn digitale Kompetenz gilt längst als wichtige Voraussetzung für soziale Teilhabe.
Welche Kinder und Jugendlichen sind besonders benachteiligt?
Was die eben erwähnten Zugangsmöglichkeiten betrifft, gibt es eine Ausnahme: Viele Kinder aus Hartz-IV-Familien sind in ihrer Mediennutzung eingeschränkt, da die Regelsätze für Festnetz, Mobilfunk und Internet mit insgesamt 35,31 Euro pro Monat dafür nicht ausreichen. Auch Kinder aus bildungsfernen Schichten sind gefährdet, abgehängt zu werden, da sie das Netz vor allem zur Unterhaltung nutzen und nicht zur Wissensvermittlung. Es gibt eine dritte Gruppe gefährdeter Kinder: diejenigen, deren Eltern versuchen, sie mit aller Macht von digitalen Medien fernzuhalten.
Um welche Kompetenzen bringen diese Eltern ihre Kinder?
Sie grenzen sie aus ihrer Peergroup aus, da sie Klassenkommunikation heutzutage vorwiegend über Whatsapp läuft. Und sie nehmen ihnen ein Trainingsfeld, denn digitales Wissen eignet man sich nicht über Nacht an. Welchen erzieherischen Wert hat es, wenn ich sage: Mein Kind nimmt bis 13 nicht an der digitalen Welt teil? Wenn ich mein Kind, bis es 13 ist, an der Hand zur Schule führe, und es dann von heute auf morgen mit dem Rad durch die Großstadt schicke, ist der Verkehrsunfall doch vorprogrammiert.
Welche digitalen Fähigkeiten bräuchten alle Kinder, damit sie faire Startbedingungen haben?
Es geht um Kompetenzen, die jeder junge Mensch persönlich braucht, um sich beispielsweise sicher im Netz bewegen und kommunizieren zu können, es geht um Datenschutz, Informationsverarbeitung und Recherche. Wie gut kann man Werbung von Inhalten trennen, Fake News von Nachrichten?
Googeln können doch alle ...
Aber nicht jeder kann die Ergebnisse der Suchmaschine gleich gut einschätzen. Die Initiative D21 erfragt mit dem jährlichen Digitalindex auch die Recherchefähigkeit von Jugendlichen ab 14 Jahren. Mit dem Ergebnis, dass sich nur 13 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch die Treffer hinter der ersten Seite anschauen – und 87 Prozent sich mit der ersten Seite begnügen, auf der sich nachweislich viel Werbung tummelt.
Wie wirken sich ungleiche Chancen auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen aus?
Mangelnde digitale Fähigkeiten können gravierende Folgen für die Ausbildung und die beruflichen Perspektiven haben. Schon heute werden in den meisten Branchen digitale Fähigkeiten vorausgesetzt – nicht nur im Bereich der Medien- oder IT-Welt, auch ein Waldarbeiter muss seine Kettensäge programmieren können. Zusätzlich fallen durch die digitale Transformation immer mehr Berufsfelder weg, die bislang von niedrig-qualifiziertem Personal ausgeführt wurden – sei es an der Supermarktkasse oder als Ticketkontrolleur. Wir haben bereits einen kritischen Punkt erreicht, wenn wir jetzt nicht Lösungen auf den Weg bringen, werden die Beschäftigungsmöglichkeiten für diese Menschen in Zukunft immer geringer. Das ist für die Betroffenen ein Problem, aber auch für die Gesellschaft, da weitere Spaltungen den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.
Was fehlt?
Was fehlt, um allen Jungen und Mädchen in unserem Land eine gewinnbringende Internetnutzung zu ermöglichen? Stehen, was die Vermittlung von Medienkompetenz betrifft, alleine die Schulen in der Pflicht?
Es müsste mehr in die Ausstattung und den technischen Support aller Bildungseinrichtungen – von der Kita bis zur Erwachsenenbildung – investiert werden. Der Digitalpakt, also die Bund-Länder-Vereinbarung zur Unterstützung der Bildung in der digitalen Welt, ist ein erster Schritt. Doch neben der Ausstattung der Schulen mit digitaler Technik braucht es ein kluges und bundesweit einheitliches pädagogisches Konzept für einen souveränen Umgang mit den digitalen Möglichkeiten. Hinzu kommt, dass die meisten pädagogischen Fachkräfte in der Ausbildung noch nicht die dringend notwendigen Kompetenzen erwerben.
Was bringt der Digitalpakt den Kindern, die zu Hause keine technische Ausstattung haben für ihre künftig immer mehr online zu erledigenden Hausaufgaben?
Ganztagsunterricht gehört dazu und auch Jugendfreizeiteinrichtungen könnten in die Bresche springen. Zurück zu Ihrer Pflichtfrage: Schulen sollten zuständig dafür sein, ihren Schülerinnen und Schülern alle digitalen Fähigkeiten, die ausbildungs- und berufsrelevant sind, zu vermitteln und sie mit der Bandbreite der digitalen Medien vertraut zu machen. Themen, die in den erzieherischen Bereich fallen, wie angemessenes Verhalten in sozialen Netzwerken, Umgang mit Cybermobbing oder Hate Speech, ist meiner Ansicht nach aber auch Aufgabe der Eltern. Dafür fehlen Angebote, die Eltern für die Aufgabe der Medienerziehung qualifizieren.
Stichwort digitale Barrierefreiheit – was ist mit denjenigen Kindern und Jugendlichen, die aufgrund eines Handicaps nicht in der Lage sind, digitale Medien zu nutzen?
Auf der Geräteseite hat sich viel getan, vor allem was die Sprachsteuerung betrifft, die blinden Menschen den Zugang zur digitalen Welt erleichtert. Voraussetzung ist, dass die Webangebote so programmiert sind, dass gehörlose, blinde oder anders beeinträchtigte Menschen sie nutzen können. Zwar gilt seit 2011 die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung, doch sie verpflichtet nur Behörden, ihre Internetauftritte barrierefrei zu gestalten. Private und kommerzielle Webangebote trifft die Verordnung nicht. Zu den allermeisten privat ins Netz gestellten Youtube-Videos hat ein blinder Mensch beispielsweise keinen Zugang.
Inwieweit ist unsere gesamte Gesellschaft gefragt, sich für die digitale Chancengleichheit einzusetzen?
Wie die Digitalisierung unsere Gesellschaft verändert, ist noch nicht vollständig abzusehen. Deshalb brauchen wir einen allgemeinen Bewusstwerdungsprozess. Nicht alles digital Relevante kann von jedem Einzelnen in Learning-by-Doing-Manier geschultert werden. Das ist in Zeiten, in denen so viele Daten erfasst und verarbeitet werden, zu riskant. Wir müssen uns, was die digitale Mediennutzung betrifft, auf Spielregeln, Rahmenbedingungen und damit auch Gesetze einigen. Die Zukunft ist digital, Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien werden immer wichtiger. Kinder sollen sich in der Welt von morgen sicher zurechtfinden und sie aktiv mitgestalten können. Umso mehr ist die Gesellschaft gefordert, ihnen allen eine qualifizierte Vorbereitung auf die digitalisierte Welt zu vermitteln. Denn darauf haben Kinder gemäß der UN-Kinderrechtskonvention ein Recht, das Staat und Gesellschaft einlösen müssen.
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