Einsame Jugendliche„Eine Gefahr für die Demokratie“

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Ein Mädchen mit braunen Haaren, die es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, steht traurig an einem Fenster.

Einsamkeit macht sich breit unter Jugendlichen, Familienministerin Lisa Paus sieht es als „einesder drängendsten Themen unserer Zeit.“

Neue Studie zeigt: Jeder zweite junge Mensch fühlt sich einsam. Das sei eine Gefahr für die Demokratie, warnen Experten. Wir zeigen Angebote, die verbinden. 

Keine Altersgruppe fühlt sich so einsam wie die junge Generation – auch heute noch, 14 Monate nachdem die Corona-Pandemie offiziell für beendet erklärt wurde. Seitdem häufen sich die Studien zum Thema Einsamkeit. Jetzt zeigt eine am 17. Juni  – zum Start der bundesweiten Kampagne „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ vorgestellte – Umfrage der Bertelsmann Stiftung: Beinahe jeder zweite junge Mensch zwischen 16 und 30 Jahren fühlt sich einsam – 35 Prozent der Befragten gaben an, das in moderatem Maße zu empfinden, elf Prozent fühlten sich stark einsam.

In der Summe bedeutet das: 46 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen und damit jeder zweite junge Mensch empfindet das schmerzhafte Gefühl, dass die Anzahl und die Qualität seiner Beziehungen unzureichend sei. Mit knapp 51 Prozent ist diese Wahrnehmung bei den 19- bis 22-Jährigen am stärksten ausgeprägt. Längst hat auch die Politik erkannt, dass sich Einsamkeit innerhalb der jungen Generation immer weiter ausbreitet und zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem entwickelt.

Einsamkeit breitet sich unter Jugendlichen aus

So ist etwa für Bundesfamilienministerin Lisa Paus Einsamkeit „eines der drängendsten Themen unserer Zeit“, das sie aus der Tabu-Zone holen und dem sie mit einer „Strategie gegen Einsamkeit“ begegnen möchte, für die ihr Ministerium zunächst 70 Millionen Euro zur Verfügung stellen wird. Ein Baustein ist das so genannte Einsamkeitsbarometer, eine in regelmäßigen Abständen erhobene, wissenschaftliche Studie zu Zahlen und Fakten rund um das Thema „Einsamkeit.“

Wer Vertrauen in die Gesellschaft verliert, verliert auch Vertrauen in die Demokratie, die politische Teilhabe nimmt ab, genauso wie die Bereitschaft, wählen zu gehen
Lisa Paus, Bundesfamilienministerin

Der aktuelle Bericht zeigt, wie sich Einsamkeit negativ auf die physische und psychische Gesundheit auswirkt. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO ist sie genauso schädlich wie Fettleibigkeit, Rauchen und Luftverschmutzung. Es ist zudem erwiesen, dass Einsamkeit unter anderem Stress verursacht und eine erhöhte Anfälligkeit für psychische und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Einsame Jugend: Gefahr für die Demokratie

Zudem könne Einsamkeit langfristig auch der Demokratie schaden: „Wer Vertrauen in die Gesellschaft verliert, verliert auch Vertrauen in die Demokratie, die politische Teilhabe nimmt ab, genauso wie die Bereitschaft, wählen zu gehen“, sagt Paus.

Die Studie „Extrem einsam?“, die das Progressive Zentrum Berlin im Jahr 2022 mit mehr als tausend befragten Jugendlichen zwischen 16 und 23 Jahren in Auftrag gegeben hat, veranschaulicht deutlich den Zusammenhang zwischen jugendlicher Einsamkeit und autoritären Einstellungen. Was bedeutet: Der Zuspruch zur Demokratie hat auch damit zu tun, wie stark sich Individuen mit der Gesellschaft verbunden fühlen. Denn bei Menschen, die sich häufig einsam, unverbunden und unverstanden fühlen, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie Verschwörungserzählungen glauben, politische Gewalt billigen und autoritären Haltungen zustimmen.

Laut der Studie fehlt 55 Prozent der Jugendlichen manchmal oder immer Gesellschaft, und 26 Prozent haben nicht das Gefühl, anderen Menschen nah zu sein. Einsam sind eher Jugendliche, die finanziellen Druck verspüren, die nicht mehr zu Hause wohnen oder die eine Migrationsgeschichte haben. 56 Prozent der befragten Jugendlichen geben an, dass sie sich durch die Pandemie häufiger einsam gefühlt haben. Die allermeisten beteiligten Jugendlichen haben nur ein vages Bild davon, was Gesellschaft bedeutet, und sie besitzen kaum kollektives Bewusstsein. Nur 57 Prozent halten die Demokratie für die beste Staatsform.

Ursachen der Einsamkeit

Expertinnen und Experten sind sich einig, dass die steigende Zahl einsamer Jugendlicher zwar mit den Kontaktbeschränkungen der Corona-Pandemie in Zusammenhang stehe, aber nicht allein dadurch erklärt werden könne. Sie nennen als mögliche Ursachen veränderte Bedingungen des Erwachsenwerdens, wandelnde Kommunikations- und Umgangsformen sowie einen „allgemeinen Krisenmodus“.

Auch könne es eine Rolle spielen, dass Arbeitsstellen und Beziehungen häufiger als früher gewechselt oder beendet würden. Zudem seien Armut, ein niedriger Schulabschluss oder ein mittelgroßer Wohnort nachweislich Faktoren, die zu Einsamkeit beitragen. Welche dieser Ursachen wie stark wirke, müsse weiter untersucht werden.

In einer Gesellschaft, die bereits vor der Corona-Krise durch Entfremdung gekennzeichnet war, wird die soziale Distanzierung eine potenzierende Wirkung entfalten
Georg Juckel, Psychiater und Klinischer Direktor des LWL-Universitätsklinikums Bochum

Georg Juckel, der Psychiater und Klinischer Direktor des LWL-Universitätsklinikums Bochum, prophezeite schon während der Pandemie: „In einer Gesellschaft, die bereits vor der Corona-Krise durch Entfremdung gekennzeichnet war, wird das Social Distancing, also die soziale Distanzierung, eine potenzierende Wirkung entfalten. Die Menschen werden ihre privaten Kontakte stärker danach auswählen, wer ist sicher, wer unsicher, und in der Öffentlichkeit zurückhaltender sein. Diese Entwicklung wird Jahre nachwirken.“

Auch Juckel sieht in der Einsamkeit ein gesamtgesellschaftliches Problem und regt an, dass „Menschen, die regelmäßig für die Alleinlebenden und Bedürftigen sorgen, zum Beispiel Steuererleichterungen bekommen.“


Angebote gegen Einsamkeit für junge Menschen

Einsamkeit erforschen und sichtbar machen, Beratungsangebote sowie Orte, Projekte und digitale Teilhabe-Initiativen schaffen, die verbinden, das sind Lösungsansätze des „Kompetenznetz' Einsamkeit“ (KNE). Außerdem empfiehlt das KNE Apps, die Menschen verbinden (siehe unten).

Krisentelefone, Chats und Onlineforen

Krisenchat.de bietet kostenfreie Beratung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren via Chat an. Das Angebot ist rund um die Uhr über WhatsApp und SMS, ohne Anmeldung und Registrierung erreichbar und wird von ehrenamtlichen Fachkräften aus dem psychosozialen Bereich betreut. Krisenchat richtet sich an alle, die nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen, und sich noch nie mit ihren Ängsten, Problemen und Sorgen an jemanden gewandt haben.Krisenchat berät auch auf Ukrainisch und Russisch.

Die „Nummer gegen Kummer“ berät sowohl Kinder und Jugendliche als auch Eltern – am Telefon und online. Das Telefon für Kinder und Jugendliche ist unter  116 111 von Montag bis Samstag zwischen 14 und 20 Uhr erreichbar.

[U25] ist ein niedrigschwelliges, kostenfreies Online-Hilfsangebot für Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren in Lebenskrisen. Die Beratung erfolgt ausschließlich anonym per Mail im Caritas-Beratungssystem durch ehrenamtliche Gleichaltrige. Unterstützt werden die Ehrenamtlichen durch pädagogische Fachkräfte.JugendNotmail

Auf jugendnotmail.de können Kinder und Jugendliche ihre Sorgen thematisieren – unkompliziert, vertraulich, kostenlos und datensicher. Rund 230 Psycholog*innen und Sozialpädagog*innen mit Zusatzausbildung beraten ehrenamtlich und beantworten die Hilferufe junger Menschen schnell, diskret und verlässlich per Mail und Chat. 

Projekte und Apps, die verbinden

Start with a Friend e.V.  setzt sich für nachhaltige Begegnungen ein, indem wir Menschen mit und ohne Einwanderungserfahrung in Freundschaften zusammenbringen. 

GemeinsamErleben ist eine App, die Aktivitäten & Freizeittipps in der Umgebung vermittelt, motivierte Mitmacher für Hobby, Sport oder Reisen und einfache Tools, um gemeinsame Treffen zu planen und in Kontakt zu bleiben.

Buddy bietet jungen Menschen Inspiration für Aktivitäten und Freundschaften. 

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