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InklusionAimées großer Traum, Journalistin zu werden

Lesezeit 6 Minuten
Die gehandicapte Schülerin Aimée Heimbach sitzt an einem Schreibtisch in der Lokalredaktion des Kölner Stadt-Anzeigers vor einem großen Monitor, auf dem die aktuelle Zeitungsseite zu sehen ist.

Die gehandicapte Schülerin Aimée Heimbach, 14, macht in der Lokalredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“ ein Praktikum.

Die 14-jährige Aimée Heimbach hat eine große Leidenschaft: das Schreiben. Auch wenn ihr das aufgrund ihrer Wahrnehmungsstörungen und motorischen Einschränkungen auf herkömmliche Art und Weise schwerfällt. In der Müngersdorfer - von „wir helfen“ geförderten - LVR-Anna-Freud-Schule wird sie unter anderem auch auf ihrem Weg zum Traumberuf maximal gefördert.

„Alle, denen ich von meinem Vorhaben erzählte, haben dagegen gewettet und prophezeit: Einen Praktikumsplatz bei einer Zeitung bekommst du nie!“, sagt Aimée Heimbach und zwinkert dabei mit einem der beiden großen, grüngrauen Augen. Die 14-Jährige sitzt versteckt hinter zwei Monitoren, an einem großen Schreibtisch. Direkt vor ihr: ihr iPad, daneben: jede Menge Zeitungsausgaben, hinter ihr: ein Rollator. Und Josiane Rangel-Michels („Josi“), ihre Schulbegleiterin. Seit 14 Tagen macht die Neuntklässlerin der LVR-Anna-Freud-Schule (AFS) in Müngersdorf, unterstützt von Josi, ein Schülerpraktikum in der Lokalredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Caroline Kron

Caroline Kron

Redakteurin für „wir helfen“, die Aktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“ für Kinder und Jugendliche in Not. Bevor sie über die von „wir helfen“ unterstützen Projekte berichtete, war sie im Einsatz für das...

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Das ist nicht selbstverständlich. Nicht nur, weil dort – verstärkt seit der Pandemie – kaum noch Praktikumsplätze angeboten werden können. Aimée hat Probleme mit dem „gewöhnlichen“ Lesen und Schreiben, aufgrund ihrer Wahrnehmungsstörung und motorischen Einschränkungen. Seit ihrer Geburt lebt sie mit der schwer auszusprechenden „Periventrikulären Leukomalazie“, besser bekannt als PVL. Die Erkrankung tritt häufig bei Frühgeborenen auf, bei denen aufgrund verschiedener Ursachen die weiße Hirnsubstanz geschädigt wurde. So dass es in der Folge bei den betroffenen Kindern zu Spastiken, Seheinschränkungen, Ausfällen der motorischen Funktionen, also Beeinträchtigungen des Bewegungsapparats und zu Epilepsie kommen kann.

Hilfe zur Selbsthilfe: Diktieren statt tippen

Aimée fällt es aufgrund ihrer Wahrnehmungsprobleme schwer, Texte in kleiner Schrift zu lesen – weshalb ihre Lehrerinnen und Lehrer Lesetexte für sie auf DIN A3, mit großem Zeilenabstand kopieren. Aimées motorische Einschränkungen machen es ihr kaum möglich, auf einer kleinen PC- oder Handy-Tastatur zu tippen, geschweige denn mit der Hand zu schreiben – das erledigt während des Unterrichts Josi für sie, indem Aimée ihr die Texte und andere Aufgaben diktiert.

Aimées Schulbegleiterin Josi hilft Aimée am Schreibtisch, das iPad zu bedienen und die Zeitungen zu lesen.

Schulbegleiterin Josiane Rangel-Michels unterstützt Aimée im Schulalltag und während des Praktikums.

Nichts davon hält die aufgeweckte Jugendliche mit dem ansteckenden Lachen und dem „glasklaren Verstand“, wie ihre Klassenlehrerin Germina Krückemeier sagt, davon ab, ihrem, „großen Traum, Journalistin zu werden, Schritt für Schritt näherzukommen.“ Schritt eins in Richtung Traumrealisierung ist längst erledigt. Von Kindestagen an „schreibt“ Aimée Geschichten, besser gesagt: Sie lässt sie schreiben.

„Ich kann mich noch genau an meine erste Geschichte erinnern, ich war sechs Jahre alt, wir waren in Spanien im Urlaub, und mir ging eine selbst erfundene Erzählung nicht mehr aus dem Kopf. Also diktierte ich sie meinem Vater, der sie im Laptop festhielt, damit sie nicht verloren geht.“ Seitdem hat Aimée unzählige Geschichten verfasst. Und an ihrem Stil – Schritt zwei in Richtung Traumrealisierung – in einer Schreibwerkstatt gefeilt.

Kölner Schülerin mit Herz, Humor und Schreibtalent

„Das Schreiben ist meine große Passion, ich liebe es“, schwärmt Aimée. Dass hinter dieser Liebe auch Talent steckt, bestätigt ihre Klassenlehrerin Germina Krückemeier: „Aimée konnte sich schon immer wunderbar schriftlich und mündlich ausdrücken. Ob Gedichtanalyse, Zeitungskommentar oder Charakterisierung, ihre Texte zeigen, wie emphatisch und klug Aimée ist und dass sie in der Lage ist, zwischen den Zeilen zu lesen. Auch ihr großes Herz und ihr toller Humor spiegeln sich in ihren Texten wider.“

In Nähe meiner Heimatstadt Mülheim an der Ruhr gibt es keine Förderschule, die mir ermöglicht, das Abitur zu machen
Aimée Heimbach, Neuntklässlerin an der LVR-Anna-Freud-Schule

Neben Humor und Herz verfügt Aimée über Ehrgeiz und einen starken Willen. Der sich schon darin zeigte, dass sie mit zehn Jahren beschloss, während der Woche im Internat zu leben, um die AFS besuchen zu können. Aimées Elternhaus steht eine Autostunde entfernt von Müngersdorf in Mülheim an der Ruhr. „In nächster Nähe gibt es dort keine Förderschule, die es mir mit meiner körperlichen Beeinträchtigung ermöglicht, Abitur zu machen“, sagt Aimée. Deshalb lebt sie seit fünf Jahren, an fünf Tagen in der Woche im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Hürth, einem Internat, das die Diakonie Michaelshoven speziell für Schülerinnen und Schüler betreibt, die überwiegend die AFS besuchen.

Müngersdorfer Förderschule bietet Abitur an

„Für uns ist die Leistungsorientierung, neben der sonderpädagogischen Förderung und der Begleitung zur Selbstständigkeit, ein sehr wichtiges Profil“, sagt Direktorin Elke Goldschmidtböing. Und meint damit, dass an der Schule des LVR zielgleich nach den Kernlehrplänen der Realschule und der gymnasialen Oberstufe unterrichtet wird. Und die AFS damit deutschlandweit die einzige staatliche Förderschule für körperliche und motorische Entwicklung ist, die als Abschluss das Zentralabitur anbietet.

Das Siegel „Leistung macht Schule“, das die AFS bislang als einzige Förderschule von bundesweit 300 weiteren Schulen erhielt, gibt ihr Recht. Und es ist nicht die einzige Auszeichnung: „Starke Schule“, „Mint freundliche Schule“, „Fairtrade School“ und „Schule global“ sind nur einige der vielen „Gütesiegel“ der LVR-Anna-Freud-Schule.

Multiprofessionelles Team und maximale Förderung

280 Schülerinnen und Schüler, vorwiegend mit körperlichen Beeinträchtigungen, chronischen und psychosomatischen Erkrankungen aber auch ohne Beeinträchtigungen, besuchen die AFS am Alten Militärring 96. Sie werden dort von einem multiprofessionellen Team – bestehend aus Sonderpädagogen, Gymnasiallehrern, Physio-, Logo-, Ergotherapeuten, examinierten Pflegekräften, einer Psychologin, Inklusionsbegleitern, unterrichtet und individuell gefördert. So viel Fach-Expertise hat ihren Preis, weshalb die AFS auf Spenden – unter anderem von „wir helfen“ – angewiesen ist.


So können Sie helfen

„wir helfen: Damit alle Kinder bei uns eine Zukunft haben“

Mit unserer neuen Jahresaktion „wir helfen: damit alle Kinder bei uns eine Zukunft haben“ bitten wir um Spenden für Projekte in Köln und Umgebung, die Kindern und Jugendlichen eine gute körperliche und geistige Entwicklung ermöglichen. Die gesamte Spendensumme wird weitergegeben, die Verwaltungskosten trägt der Verlag M. DuMont Schauberg.Die Spendenkonten lauten:„wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“Kreissparkasse Köln,IBAN: DE03 3705 0299 0000 1621 55Sparkasse Köln-Bonn,IBAN: DE21 3705 0198 0022 2522 25Mehr Informationen und Möglichkeiten zum Spenden unter www.wirhelfen-koeln.de.

„Ich fühle mich in meiner Schule sehr aufgehoben und maximal gefördert. Wenn ich körperlich etwas nicht kann, suchen wir gemeinsam nach Alternativen. Ich sitze ganz vorne im Klassenraum, damit ich die Tafel und den Bildschirm gut erkennen kann. Josi hilft mir, wenn ich Hilfe brauche, etwa beim Schreiben, oder wenn es mit meinem Rollator mal schneller gehen muss, um rechtzeitig in der Sporthalle zu sein“, sagt Aimée. Auf ihrem Stundenplan stehen auch Physio- und Ergotherapiesitzungen, so dass sie nach einem Schultag auch wirklich Freizeit hat, die sie am liebsten mit ihren Freundinnen verbringt.

Greta Thunberg wäre eine Traum-Interviewpartnerin

Oder nutzt, um an ihrer nächsten Fantasy-Geschichte zu arbeiten. „Mein absoluter Traumberuf wäre Journalistin, das habe ich schon sehr lange fest im Kopf“, sagt Aimée. Und sie hat auch schon eine Wunschkandidatin für ein erstes Interview im Sinn: Suzanne Collins, Autorin ihrer Lieblingsbuchreihe, der „Tribute von Panem-Trilogie“. Oder Greta Thunberg. Die Fridays-For-Future-Frontfrau hat, wie viele von Aimées Mitschülerinnen und Mitschülern, eine Autismus-Spektrum-Störung – und ein besonderes Talent, das sie ohne ihre Beeinträchtigung vielleicht nicht hätte, da sie sich wie viele Betroffene besonders stark auf ein Thema fokussieren kann. Und auf ein Ziel, wie Aimée, deren erster Zeitungsartikel diese Woche im „Kölner Stadt-Anzeiger“ erschienen ist.