AboAbonnieren

Glashütte PorzWo Mädchenarbeit großgeschrieben wird

Lesezeit 4 Minuten
Drei junge Mädchen mit langen, braunen Haaren sitzen an einem großen Tisch im Bistro der Glashütte Porz und lackieren sich die Fingernägel

Junge Teilnehmerinnen des Projekts „Mädchenkram“ verwandeln das Bistro der Glashütte Porz in ein Nagelstudio

Mädchensozialarbeit ist wichtiger denn je, auch wenn ihre feministischen Ziele heute anders umgesetzt werden. Zu Besuch beim Mädchentag in der Glashütte Porz.

Was als kleine Revolution begann, ist heute ein Qualitätskriterium der modernen Kinder- und Jugendhilfe: Mädchenarbeit hat sich in vielen Bereichen fest etabliert, ist nach wie vor wichtig und zeitgemäß. „Zwar haben sich ihre feministischen Ziele nicht verändert, aber ihre Konzepte und Angebote müssen sich stets an die gesellschaftlichen Veränderungen anpassen“, sagt Petra Riemann.

Die Leiterin des Porzer Jugend- und Gemeinschaftszentrums „Glashütte“, zeigt wie zum Beweis auf eine Gruppe junger Mädchen, die eine Nische im „Bistro“ der Einrichtung in ein Miniatur-Nagelstudio verwandelt haben – umgeben von allerhand Glasfläschchen, Glitzersteinen und Wattebäuschen.

Pediküre, Barbie und Cookies in der Glashütte Porz

„Pediküre wäre früher ein No-Go im Angebot der Mädchenarbeit gewesen“, sagt Riemann. Doch Elif, 7, Ela, 8, und Ervanur, 9, haben es sich sehnlichst für den heutigen „Mädchenkram“ gewünscht. Haargenau so nennt sich der Nachmittag speziell für Mädchen, dessen Bezeichnung als Provokation gedeutet werden darf, und der jeden Dienstag unter Leitung der Honorarkraft Meera Kalra, 19, auf dem umfangreichen Freizeit-Programm der Glashütte steht.

Neben Fingernägel lackieren bietet Meera Kalra – je nach Wünschen der bis zu 20 teilnehmenden Mädchen – auch Schmuck oder Spielschleim herstellen, Cookies backen oder Tik-Tok-Videos nachstellen an. Im Fokus stehen die Themen Lifestyle, Kreativität, Medien und Kulinarik. Auch die einmal pro Jahr stattfindende „Girlsnight“ wird nach den Wünschen der Mädchen gestaltet – bei der letzten Übernachtungsparty drehte sich alles um den Kinofilm Barbie.

Die Leiterin des Jugendzentrums Glashütte, Petra Riemann, sitzt im Kunstatelier der Porzer Einrichtung vor vielen knallbunten Gemälden.

Petra Riemann, die Leiterin der Glashütte Porz an ihrem Lieblingsort: dem Kunstatelier der Jugend- und Gemeinschaftseinrichtung.

Wir legen bei der Gestaltung unserer Angebote großen Wert auf Partizipation. Damit nehmen wir die Bedürfnisse der Mädchen ernst und wir selbst bleiben in ihrer Lebenswelt verankert, erfahren, was sie beschäftigt, besorgt, bewegt und auch, dass Makramee und Bügelperlen out sind
Petra Riemann, Leiterin des Jugend- und Gemeinschaftszentrums Glashütte Porz

Daneben gibt es exklusiv für Mädchen und Teenagerinnen ein „Dance“-Angebot, bei dem zu TikTok-Videos Hip-Hop getanzt wird, und – als Highlight – der jährlich stattfindende Mädchenkulturtag. „Wir legen bei der Gestaltung unserer Angebote großen Wert auf Partizipation. Damit nehmen wir die Bedürfnisse der Mädchen ernst und wir selbst bleiben in ihrer Lebenswelt verankert, erfahren, was sie beschäftigt, besorgt, bewegt und auch, dass Makramee und Bügelperlen out sind“, sagt Riemann, schmunzelt und fügt an: „Die Fingernägel-Session nutzen wir als Medium, um ins persönliche Gespräch mit den Mädchen zu kommen“ – auch über Themen jenseits von Nagellack und Glitzersteinchen.

Versteckte Hilfsbedürftigkeit und leise Bewältigungsstrategien von Mädchen

Zum Beispiel über ihre versteckte Hilfsbedürftigkeit. „Mädchen verarbeiten belastende Lebenslagen eher leise. Sie reagieren stärker mit psychischen Erkrankungen, sind in sich gekehrt oder richten ihre Aggressionen gegen sich selbst, entwickeln Essstörungen oder anderes selbstverletzendes Verhalten“, sagt Riemann.

Diese „leiseren“ Bewältigungsstrategien würden seltener vom sozialen Umfeld registriert und als hilfebedürftig eingestuft, als etwa aggressives oder anderweitig auffälliges Verhalten von Jungen. Darin liege auch einer der Gründe, warum Mädchen mit einem Anteil von gerade einmal 25 Prozent wesentlich seltener erzieherische Hilfen in Anspruch nehmen als Jungen.

Bildungsbenachteiligung: Hausarbeit statt Hausaufgaben

„Hinzu kommen strukturelle Benachteiligungen, die Mädchen aufgrund ihres Geschlechts erfahren – gerade im Übergang von der Schule ins Berufsleben“, sagt Riemann. Nicht wenige Mädchen, die die Glashütte besuchen, egal ob mit Migrationshintergrund oder ohne, hätten zu Hause nicht genügend Zeit zu lernen, da sie verantwortlich für den Haushalt oder die Betreuung der Geschwister seien. Bei anderen sei die schulische Förderung seitens der Eltern nicht gewünscht. Oder finanziell schwer zu stemmen: Der Anteil der Jugendlichen, die staatliche Hilfeleistungen erhalten, liegt in der Glashüttenstraße bei 45,2 Prozent.

Auch wir beobachten im Umfeld unserer Einrichtung einen Anstieg von Gewalt bei Mädchen
Petra Riemann, Leiterin der Porzer Glashütte

„Wir Mitarbeitenden der offenen Kinder- und Jugendarbeit sind aufgrund dieser spezifischen Problemlagen von Mädchen nach wie vor gefordert, spezielle Angebote für sie anzubieten“, sagt Riemann – und erklärt damit auch die Notwendigkeit und die Ziele moderner Mädchenarbeit: Eigene Orte für Mädchen und Teenagerinnen zu schaffen, in denen sie gesellschaftliche Rollenzuweisungen reflektieren, neue Rollen erfahren und ein Selbstbewusstsein entwickeln können.

Sichere Orte für von Gewalt betroffene Mädchen

Mädchen brauchen eigene Räume auch um für ihre Rechte sensibilisiert zu werden und Orientierungshilfen zu erhalten, in einer Welt, die ihnen vermeintlich unendlich viele Optionen bietet. Schließlich benötigen Mädchen sichere Orte, da sie nach wie vor in hohem Umfang von Gewalt betroffen sind – als Opfer und als Täterinnen. „Auch wir beobachten im Umfeld unserer Einrichtung einen Anstieg von Gewalt bei Mädchen“, bestätigt Riemann.

Die Leiterin des „Mädchenkram“-Nachmittags Meera Kalra (rechts) lackiert einer jungen Teilnehmerin die Nägel

Die Leiterin des „Mädchenkram“-Nachmittags Meera Kalra (rechts) lackiert einer jungen Teilnehmerin die Nägel.

Im Inneren der „friedlichen Oase“, wie Riemann die Glashütte nennt, indes ist jede Form von Gewalt – ob körperlich, sexuell oder mit Worten – tabu. Mit Erfolg: Nur zwei Hausverbote habe das Team seit Eröffnung im Jahr 1998 wegen Zuwiderhandlung aussprechen müssen.

Kleines Team setzt sich mit viel Herzblut für benachteiligte Kinder ein

Bis zu 80 Kinder und Jugendliche zwischen acht und 18 Jahren, davon 40 Prozent Mädchen und 60 Prozent Jungen, besuchen täglich die mit ihren 2400 Quadratmetern landesweit größte Einrichtung dieser Art in der Porzer Glashüttenstraße. Sie ist eine von 20 Kinder- und Jugendeinrichtungen der Jugendzentren Köln gGmbH (JUGZ), in der ein nur 5-köpfiges Team, drei festangestellte Mitarbeitende, zwei Honorarkräfte, engagiert und mit Herzblut darum bemüht sind, diese häufig benachteiligten Mädchen und Jungen zu fördern und zu stärken.

Wer die Glashütte, diesen bunten, großen Zufluchtsort inmitten trister Hochhaus-Reihen besucht, seinen Kraft- und Kinoraum, das soziale Bistro, die Werkstatt oder das Tonstudio, ahnt, dass dort mit mehr Personal und finanzieller Ausstattung noch mehr Mädchen im Sinne des ersten Paragrafen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes die Chance hätten, sich zu selbstbestimmten, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu entwickeln.


Mädchenarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe: Geschichte und Notwendigkeit

  1. Innerhalb der Jugendsozialarbeit hat die Mädchenarbeit eine lange Tradition. Die Jugendsozialarbeit ist laut Paragraf 13 SGB VIII ein Sammelbecken verschiedener Ansätze für individuell und strukturell benachteiligte junge Menschen. Sie reagiert auf prekäre Lebenslagen wie Wohnungs- und Arbeitslosigkeit, Flucht, Prostitution oder Menschenhandel und bezieht dabei Mehrfachbenachteiligungen wie Migration, Geschlecht, Armut mit ein.
  2. Die Mädchensozialarbeit geht zurück auf die Anfänge der Sozialen Arbeit, als vor allem für Mädchen und Frauen in Armut und Notlagen – wie Mädchen, die als Hausangestellte in die Städte kamen und von Prostitution bedroht waren – Hilfsangebote geschaffen wurden. Dazu zählten Kurse für Kinderpflege und -erziehung, Gesundheit und Hygiene. Die pädagogischen Angebote zielten darauf ab, konservative Rollenbilder zu transportieren und Mädchen auf ihre künftige Hausfrauen- und Mutterrolle vorzubereiten.
  3. Als „kleine Schwester“ der deutschen Frauenbewegung entwickelte sich ab den 1970er-Jahren eine feministische Mädchenarbeit. Ziel war es, das Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen öffentlich zu machen und Schutzeinrichtungen wie Autonome Frauenhäuser, Mädchenschutzeinrichtungen oder Beratungsstellen gegen sexuellen Missbrauch zu schaffen. In der offenen Jugendarbeit wurden Mädchencafés, Mädchentage und Mädchengruppen installiert, um dem Phänomen „Jugendarbeit ist Jungenarbeit“ entgegenzutreten.
  4. Anfang der 1990er-Jahre führte das im „Bundesjugendplan“ verankerte, erstmals eigenständige Mädchenprogramm dazu, dass die Projekte der Mädchenarbeit ausgeweitet wurden. Und der Paragraf 9,3 des 1990 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendhilfegesetzes, verpflichtet gesetzlich dazu, in allen Leistungen und Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe „die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung zu fördern.“
  5. Die heutige Mädchenarbeit ist vielfältig, aber öffentlich unsichtbarer geworden und meist von (befristeten) Projektfinanzierungen abhängig. Aber sie ist nach wie vor dringend vonnöten, da (strukturelle) Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts immer noch be- und einer vollständigen Gleichberechtigung entgegenstehen. So liegt der Hauptanteil an Kindererziehung und Haushaltsführung noch immer bei den Frauen. Sie bekommen schlechtere Ausbildungs- und Arbeitsplätze, niedrigere Löhne und Positionen. Ihr Armutsrisiko ist deutlich höher ebenso wie das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. Zwar sind die gesellschaftlichen Rollenbilder vielfältiger geworden, aber sie sind oft in sich widersprüchlich, womit sie Mädchen überfordern. Je nach Schicht, Ethnie, Sozialraum, Religion, familiären Strukturen und Kultur wirken zudem wieder traditionelle Rollenbilder verstärkt auf Mädchen ein.
  6. Ziele der modernen Mädchenarbeit sind daher primär die Förderung ihrer Selbstbestimmung und die Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten, unabhängig von gesellschaftlichen Zuschreibungen. (kro)