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Jedes Sechste Kind ist betroffenLeben lernen mit der chronischen Krankheit

Lesezeit 7 Minuten

Kinder leiden immer häufiger unter chronischen Erkrankungen.

KölnHerr Professor Weiß, Ende September treffen sich 3000 Kinder – und Jugendmediziner in Köln. Ein Kongress-Schwerpunkt werden chronische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter sein. Warum?

In den letzten 30 Jahren hat sich in der Kinder- und Jugendmedizin ein ganz neues Verständnis bei den chronischen Erkrankungen entwickelt. Bestimmte Erkrankungen können wir heute dank einer besseren Bildgebung und einer verbesserten Labor- oder Gendiagnostik viel früher und zuverlässiger entdecken. Und wir behandeln sie länger und mit einer verbesserten Medizin. Wo früher etwa nur festgestellt werden konnte, dass ein Kind sich nicht richtig entwickelt oder nicht gedeiht, können wir heute oft eine klar definierbare Erkrankung darstellen.

Haben Sie einige Beispiele?

Heute wissen wir zum Beispiel, dass bestimmte immunologische oder rheumatische Erkrankungen eben nicht erst bei 30- oder 40-Jährigen auftreten, sondern wir diagnostizieren sie bereits bei Vier-, Acht- oder 15-Jährigen.

Ein anderes Beispiel: Noch vor 15 Jahren dauerte es durchschnittlich drei bis vier Jahre, bis eine chronisch entzündliche Darmerkrankung diagnostiziert wurde. Diese Erkrankungen erkennen wir heute schneller. Leukämien im Kindesalter werden nach gezielter und komplexer Diagnostik früher eingeteilt und können sie so auch besser behandelt werden. Heute haben Kinder mit einer Leukämie eine 90-prozentige Überlebenschance, früher lag die bei 50 Prozent.

Man kann also sagen, dass durch die verbesserte Diagnostik, aber auch die höhere Wachsamkeit von Eltern und Ärzten chronische Erkrankungen vermehrt in den Alltag der Kinder- und Jugendmedizin gelangt sind.

Chronische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter haben also zugenommen?

Ja und nein. Es gibt bestimmte chronische Krankheiten, die deutlich zugenommen haben. Nehmen wir zum Beispiel Allergien. Wahrscheinlich durch einen veränderten Lebensstil hat unser Immunsystem gelernt, sich zunehmend mit Allergenen zu beschäftigen. Wir gehen davon aus, dass heute jedes zehnte bis 20. Kind bei der Einschulung eine Allergie hat. Auch die Häufigkeit des Diabetes mellitus Typ I nimmt jedes Jahr leicht zu. Andere chronische Erkrankungen wie Krebs oder Epilepsien nehmen nicht zu. Wir entdecken sie nur früher, behandeln sie länger, mit einer verbesserten Medizin. Was auch bedeutet: Früher waren chronische Kranke oft Schwerstkranke und mussten daher stationär behandelt werden, heute diagnostizieren wir sie früher und können oft ambulant behandeln.

Welches sind denn die besonderen Herausforderungen bei der Behandlung chronisch kranker Kinder?

Für die Betreuung chronisch kranker Kinder ist eine ganz andere Versorgungsqualität notwendig. Und die geht weit über die rein medizinische Betreuung hinaus. Es geht darum, sich so um einen jungen Patienten zu kümmern, dass er und auch seine Familie mit der Erkrankung, die ihn sein Leben lang begleiten wird, gut leben kann. Wie sich etwa ein junger Diabetes-Patient fühlt, hängt nicht nur vom korrekten Insulin ab, sondern von der Qualität, wie man ihn begleitet – mit seinen Beschwerden, aber auch seinen Sorgen, wenn es zum Beispiel bei Jugendlichen um den Besuch des Tanzkurses oder um erste Partnerschaften und Sexualkontakte geht. In dem Moment schämt sich der Jugendliche vielleicht, eine Insulinpumpe zu tragen und weiß gar nicht so recht, wie er damit umgehen soll.

Und inwiefern brauchen die Eltern Unterstützung?

Sie brauchen zum Beispiel oft Hilfe, wenn es etwa darum geht, ihr Kind in der schwierigen Null-Bock-Phase der Pubertät zur Therapietreue zu bringen. Das ist eine große Herausforderung. Deshalb ist es wichtig, dass bei der Betreuung von Anfang an multidisziplinär gearbeitet wird – dazu gehören Psychologen, Pädagogen, Ernährungsberater, Physiotherapeuten und Gleich-Betroffene genauso wie Ärzte.

Zum körperlichen Leid kommt bei einer chronischen Erkrankung für Betroffene die Kinder oft auch das Seelische hinzu ...

Jede körperliche Erkrankung hat eine seelische Komponente und umgekehrt. Durch die multidisziplinäre Betreuung versuchen wir, die seelische Belastung von vornherein soweit es geht aufzunehmen. Trotzdem darf man eine chronische Erkrankung nicht schönreden. Natürlich sind Vier- oder Fünfjährige gewaltig traurig, wenn sie erfahren, dass sie krank sind und bestimmte Dinge nicht mehr tun können. Aber Kinder wollen auch, dass es Ihnen gut geht. Wenn sie einmal merken, dass es Ihnen mit bestimmten Medikamenten oder einem bestimmten Verhalten besser geht, dann sind sie in der Behandlung sehr kooperativ – manchmal mehr als Erwachsenen.

Trotzdem ist es enorm wichtig, ihren Selbstwert und ihre Autonomie zu fördern, was heute zum Beispiel auch durch automatische Blutzuckermessungen und die Telemedizin beim Diabetes mellitus viel leichter geworden ist.

Wie „normal“ kann das Leben mit einer chronischen Erkrankung sein?

Uns ist wichtig, dass chronisch kranke Kinder heute nicht mehr wie früher isoliert werden. Die Kinder sollen ausdrücklich normal am Schulalltag teilnehmen oder auch in einen Sportverein gehen. Das sehe ich als gesellschaftliche Aufgabe an.

Der öffentliche Gesundheitsdienst muss Lehrer oder Trainer so informieren, dass sie wissen, wie sie mit einem chronisch kranken Kind umgehen müssen. Schlussendlich sollte das Ziel sein, die Kinder selbstständig und alltagstauglich zu machen. Dazu gehört aber auch, dass man ihnen behutsam klarmacht, dass etwa ein Epileptiker kein Pilot werden sollte und ihnen Alternativen aufzeigt.

Sie sagten zu Beginn, dass sich in der Kinder- und Jugendmedizin ein neues Verständnis für chronische Erkrankungen entwickelt hat. Werden die betroffenen Kinder in Deutschland denn schon jetzt gut versorgt?

Wir haben bereits eine gute Versorgungsstruktur. Viele Kliniken – wie auch wir – haben Spezialabteilungen für Kinder mit chronischen Erkrankungen, die interdisziplinär arbeiten. Zudem hat sich inzwischen ein Netz von Kinderärzten entwickelt, die auf bestimmte Erkrankungen spezialisiert sind. Natürlich gibt es für seltenere Erkrankungen spezialisierte Zentren, zu denen man manchmal weiter fahren muss. Aber wichtiger ist, dass wir in Deutschland geschulte ambulant tätige Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin haben mit Erfahrung und Kontakten.

Und wo hakt es noch?

Beim Übergang der chronisch kranken Kinder in den Erwachsenenbereich. Dadurch, dass chronisch kranke Kinder wie etwa Mukoviszidose-Patienten heute viel länger leben, gibt es für den Erwachsenenbereich noch nicht so viele Spezialisten.

Was sagen Sie Eltern, deren Kind gerade eine chronische Krankheit diagnostiziert bekommen hat?

Es ist gut, dass ihr Kinderarzt Sie in die Klinik geschickt hat. Ihr Kind wird sich erholen. Wir werden es gemeinsam schaffen, dass ihr Kind wieder fröhlich wird. Eine schlimme Diagnose bedeutet nicht, dass ihr Kind vor Schmerzen lange weinen muss. Ihr Kind wird so wenig Zeit wie möglich im Krankenhaus verbringen. Es wird die Krankheit nicht überwinden, aber es wird damit groß werden, und alle lernen, damit zu leben.

Professor Michael Weiß

ist Chefarzt des Kinderkrankenhauses Amsterdamer Straße (Kliniken Köln). Gemeinsam mit Professor Jörg Dötsch von der Universitätsklinik Köln ist er für die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin der Tagungspräsident des Kongresses für Kinder- und Jugendmedizin, der vom 20. bis zum 23. September im Congress-Zentrum der Kölner Messe stattfindet.

Kinderärztekongress und Konzert in der Flora

Zum ersten Mal seit 27 Jahren findet in diesem Jahr wieder der nationale Kinder- und Jugendarzt-Kongress in Köln statt. Vom 20. bis 23. September kommen im Congress-Centrum der Messe 3000 Kinder- und Jugendärzte, Pflegende und Therapeuten zusammen. Auf dieser Tagung tauschen sich die verschiedenen Fachgesellschaften der Kinder- und Jugendmedizin, der Sozialpädiatrie, der Kinderchirurgie und der Pädiatrischen Radiologie sowie der Berufsverband Kinderkrankenpflege über aktuelle Entwicklungen rund um die Kindergesundheit aus.

Im Rahmenprogramm des Kongresses findet am 22. September, 19.30 Uhr, in der Flora zugunsten von „wir helfen“ ein Konzert des Deutschen Kinderärzte-Orchesters statt. Auf dem Programm stehen Werke von Brahms und Elgar.

Karten: 25/35 Euro

www.koelnticket.de

Etwa 16 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen null und 17 Jahren leiden unter einer chronischen Erkrankung. In der Gruppe der 14- bis 17-Jährigen sind es sogar über 20 Prozent.

Die häufigste chronische Erkrankung bei Kindern ist die ernährungsbedingte Adipositas. Danach kommen Diabetes mellitus Typ 1, Rheuma, Mukoviszidose, Asthma, neurologische Erkrankungen wie Epilepsien, genetische Syndrome, die mit neurologischen oder körperlichen Störungen einhergehen, entzündliche Darmerkrankungen, Schilddrüsenerkrankungen und Herzfehler.

Die Spendenkonten

Mit „wir helfen – weil Kinderseelen zerbrechlich sind“ bitten wir um Spenden für vorbildliche Projekte, die Kinder in seelischen Fragen stärken. Bislang sind 1 497 374,26 Euro eingegangen.

Die Spendenkonten:

Kontoinhaber: Unterstützungsverein „wir helfen“

Kreissparkasse Köln, IBAN:

DE03 37050299 0000162155

Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 37050198 0022252225

www.ksta.de/wir-helfen