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Kinder in GefahrHöchststand bei Gewalt und Vernachlässigung

Lesezeit 4 Minuten
Kinderhände halten sich an einer Glasscheibe fest.

Gewalt und Vernachlässigung: Fälle von Kindeswohlgefährdung haben im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr um vier Prozent zugenommen.

Die Anzahl der nachgewiesenen Kindeswohlgefährdungen ist im Jahr 2022 um vier Prozent im Vergleich zu 2021 auf 62.300 gestiegen. Was bedeutet das genau? Und was ist zu tun?

Die deutschen Jugendämter haben im Jahr 2022 bei knapp 62.300 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Das sind laut Statistischem Bundesamt so viele gemeldete junge Menschen, die von Vernachlässigung, psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt betroffen sind, wie nie zuvor. Die Dunkelziffer wird noch viel größer vermutet.

Wann ist von einer Kindeswohlgefährdung die Rede?

Ob das Wohl eines Kindes per Gesetz gefährdet ist, hängt von vielen Faktoren ab. Generell liegt eine Kindeswohlgefährdung „offiziell“ dann vor, wenn die Lebensbedingungen eines jungen Menschen so ungünstig sind oder in solchem Widerspruch zu seinen Bedürfnissen stehen, dass sich dies vorhersehbar schlecht auf seine Entwicklung auswirkt oder sein Leben massiv gefährdet.

Artikel 6 des Grundgesetzes regelt, dass die Pflege und Erziehung der Kinder - und damit auch die Sorge für ihr Wohl - oberste Pflicht der Eltern ist. Kommen diese ihrer Verantwortung nicht nach und gefährden dadurch das körperliche, seelische oder geistige Wohl ihrer Kinder, spricht man von Kindeswohlgefährdung. In etwa jedem fünften Fall erleben die betroffenen Minderjährigen sogar mehrere Formen von Vernachlässigung oder Gewalt gleichzeitig.

Das Wohl von Kindern wird nicht ausschließlich durch Schläge und Tritte, also körperliche Misshandlungen beeinträchtigt, auch psychische, sexualisierte Gewalt und (gesundheitliche) Vernachlässigungen spielen eine Rolle. Es gibt Kinder, die mit Alkohol ruhiggestellt, allein gelassen, auf andere Art vernachlässigt oder überfordert werden, wenn sie etwa viel zu jung die Elternrolle für ihre Geschwister übernehmen müssen.

Seit dem Jahr 2000 haben Kinder in Deutschland ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen gefährden das Kindeswohl, sind verboten und stellen einen Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention dar.

Was bedeutet latente, was akute Kindeswohlgefährdung?

Bei „latenten Fällen“ können die Behörden zwar eine Gefahr für ein Kind nicht eindeutig bestätigen, aber ein ernster Verdacht bleibt. Die Zahl der latenten Fälle ging 2022 zwar um zwei Prozent auf 28.900 zurück. Gleichzeitig stiegen aber die akuten Fälle, bei denen eindeutig eine Kindeswohlgefährdung vorlag, um zehn Prozent auf 33.400 Fälle. In weiteren 68 900 Fällen lag nach Einschätzung der Behörden zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber ein erzieherischer Hilfebedarf vor.

Knapp die Hälfte der betroffenen Jungen und Mädchen, genauer: 47 Prozent, hatte zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung bereits Kontakt zum Hilfesystem.

Wer meldet wem einen Verdacht?

Erster Ansprechpartner für Gefahrenmeldungen ist das Jugendamt, aber auch bei Kinderschutzzentren, Krisentelefonen wie der „Nummer gegen Kummer“ (11611) oder der Medizinischen Kinderschutzhotline (0800/1921000), bei Anlaufstellen für Notlagen und der Polizei (Kinder- und Jugendtelefon: 0800/110333) können Verdachtsfälle gemeldet werden. Beim Verdacht, dass das Kindeswohl gefährdet ist, ist etwa ein Kindergarten dazu verpflichtet, tätig zu werden und das Gespräch mit den Eltern zu suchen. Außer für die Fachkräfte der freien Träger besteht keine gesetzliche Verpflichtung – aber gefährdete Kinder sind auf den Schutz und die Unterstützung von Erwachsenen angewiesen, also von Lehrern, Ärzten, Erziehern, Nachbarn, Freunden, Familienmitgliedern oder Eltern von Mitschülern.

Wer prüft eine Kindeswohlgefährdung?

Jugendämter, Gerichte und Sachverständige geben auf der Basis sorgfältiger Diagnosen prognostische Einschätzungen ab. Im Jahr 2022 hatten die Jugendämter insgesamt 203.700 Hinweismeldungen geprüft, bei denen der Verdacht auf eine mögliche Gefährdung von jungen Menschen im Raum stand.

Außerdem wird an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf zum Thema geforscht — und im „Childhood-Haus Hamburg“ werden Kinder, die soziale Dienste als Verdachtsfälle melden, rund um die Uhr untersucht. Rechtsmedizinerinnen schätzen Verletzungen ein, die von Schlägen, Tritten oder sonstiger Gewalt stammen könnten, Kinderärzte sind Experten für die gesundheitliche Entwicklung eines Kindes, psychologisches, pädagogisches und therapeutisches Fachpersonal für die Psyche, das Verhalten, die sprachliche und motorische Entwicklung womöglich betroffener Kinder.

Woran erkenne ich eine Kindeswohlgefährdung?

Das Thema anzusprechen gleicht einer extremen Gratwanderung — und verlangt Sensibilität. Doch Kinderschützer machen Mut: Hinschauen, zuhören und ansprechen! Denn das Schlechteste sei, gar nichts zu unternehmen. Wenn sich ein Kind anders verhält, plötzlich nicht mehr nach Hause will, sollte man sich überlegen, welche Lösung für das Kind die beste ist: Mit den Eltern, die manchmal falsch handeln, weil sie überfordert sind, reden — oder mit dem Kind selbst? Mit seinen Lehrkräften, mit Kita-Personal?

Was passiert mit nachweislich betroffenen Kindern?

Die Entscheidung, ob ein Kind in Obhut genommen, sprich: von den Eltern getrennt wird, liegt beim Jugendamt — oder beim Familiengericht, wenn die Eltern Einspruch erheben. Diese Inobhutnahmen sind im Jahr 2022 wieder stark gestiegen, um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf 66.400 Fälle. Die meisten von ihnen - nämlich rund 29.800 Minderjährige - wegen dringender Kindeswohlgefährdungen, in 28.600 Fällen handelte es sich um Inobhutnahmen nach unbegleiteten Einreisen und in 8.000 Fällen hatten die betroffenen Minderjährigen selbst um Inobhutnahme gebeten.

Mediziner können nur Empfehlungen aussprechen, etwa auf sofortige Überweisung in eine Klinik, wenn Kinder sehr vernachlässigt sind. Die Krux: Kinderschutzhäuser sind allerorten maximal ausgelastet, eine schnelle Therapie scheitert häufig an monatelangen Wartezeiten. Ein Kind, das mitten in der Entwicklung steckt, hat diese Zeit aber nicht. (Mit dpa)


Zahlen und Fakten zur Kindeswohlgefährdung

  1. Bei knapp 62.300 Kindern oder Jugendlichen haben deutsche Jugendämter im Jahr 2022 eine Kindeswohlgefährdung festgestellt — das sind vier Prozent mehr als im Jahr zuvor.
  2. Etwa vier von fünf dieser Kinder waren jünger als 14, etwa jedes zweite Kind jünger als acht Jahre.
  3. In 59 Prozent der Fälle stellten die Behörden Anzeichen von Vernachlässigung fest, bei 35 Prozent gab es Hinweise auf psychische, bei 27 Prozent auf körperliche Misshandlungen und bei fünf Prozent Anzeichen für sexuelle Gewalt. 22 Prozent der Kinder und Jugendlichen mussten mehrere dieser Formen von Gewalt — oder Vernachlässigung erleben.
  4. 30 Prozent der Hinweise kamen von der Polizei oder den Justizbehörden, 23 Prozent aus der Bevölkerung, 13 Prozent von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und jeweils ein Zehntel der Hinweise gaben Schulen und die Familien selbst.