Deutschlandweit werden jährlich rund 60 Kinder in Haft geboren, circa 150 leben mit ihren Müttern im Gefängnis. Ist das ein geeigneter Ort zum Aufwachsen? Ein Experte klärt auf.
Kinder in Haft„Das Gefängnis kann kein guter Ort für sie sein“
Professor Stöver, ist es zumutbar, dass kleine Kinder gemeinsam mit einem Elternteil im Gefängnis aufwachsen?
HEINO STRÖVER: Eines vorab, es handelt sich in den allermeisten Fällen um Mütter, Frauen, die aus sozial schwachen Verhältnissen stammen. Zwischen 50 und 70 Prozent der straffälligen jungen Mütter sind drogenabhängig. Deshalb wäre es für deren Kinder, die einen Teil ihrer Kindheit unverschuldet in Haft verbringen, meiner Meinung nach wesentlich besser, wenn sie einen anderen Umgang und eine andere Umgebung hätten, gesicherte Wohnverhältnisse, und vor allem eine verlässliche Bezugsperson. Es ist umstritten, aber ich denke, dass eine Trennung von den Eltern, beziehungsweise einem Elternteil manchmal besser für die Entwicklung des Kindes ist.
Diese Frauen leben mit ihren Kindern im offenen Vollzug, was bedeutet: sie kaufen ein, kochen, waschen die Wäsche, spielen mit ihren Kindern und bringen sie abends ins Bett. Ist das nicht Bezugsperson genug?
Ich kenne diese Einrichtungen, es sind große Wohngemeinschaften, in denen die Zimmer nicht öden und sterilen Zellen gleichen, sondern nett und bunt eingerichtet sind. Das umgebende Gelände ist aber eingezäunt und neben vielen pädagogischen Fachkräften gibt es natürlich das Sicherheitspersonal mit riesigen Schlüsselbunden. Kleine Kinder sind aufmerksam und fangen irgendwann an zu fragen. Das Gefängnis, egal wie man es gestaltet, kann kein guter Ort für Kinder sein.
Welche negativen Auswirkungen hat eine Mitinhaftierung auf die Entwicklung der Kinder?
Diese Jahre in Haft gehen an den Kleinkindern nicht spurlos vorbei. Auch wenn es noch nicht genügend wissenschaftliche Untersuchungen gibt, sind doch zahlreiche negative Auswirkungen bekannt: Kinder erfahren in Haft meist kein normales soziales Leben, es fehlen Stimuli und es gibt wenig sicheren Raum zum Spielen, kaum bis keinen Kontakt zu gleichaltrigen Kindern. Diese Jungen und Mädchen können sich nicht draußen, im realen Leben, ausprobieren, beispielsweise im Straßenverkehr. Das heißt, den Kindern fehlen wesentliche Kompetenzen, die andere Kinder durch Erfahrungen im normalen Leben erwerben. In der Haft werden zwar einige Fähigkeiten und Kompetenzen theoretisch vermittelt, aber das ist eben nicht mit dem richtigen Leben vergleichbar. Was den Kindern vor allem fehlt, ist das soziale Lernen in offenen Beziehungen.
Wären dann die Großeltern, die Tante oder eine Pflegefamilie nicht die bessere Option?
Wenn dieses Netzwerk besteht und Opa und Oma nicht auch drogenabhängig sind, wäre die Unterbringung dort für das Kind auf die bessere Variante. Denn egal wie neutral die Örtlichkeit im Strafvollzug eingerichtet ist, es bleibt ein Gefängnis.
Ist diese Mitinhaftierung der Kinder gesetzlich geregelt?
Bei uns ist es gesetzlich festgelegt, dass Kinder theoretisch bis zum Schulalter praktisch bis zu drei Jahren mit ihrer straffälligen Mutter im Gefängnis zusammenleben dürfen. Diese Altersgrenze ist seit 50 Jahren etabliert, und es ist nie wirklich empirisch untersucht worden, welche Schäden die Kleinkinder in ihrer Entwicklung nehmen, wenn sie in dieser Parallelwelt aufwachsen.
Sie stellen das praktizierte System infrage?
Die betroffenen Kinder werden bei Fragen des Kindeswohls häufig nicht beachtet. Auch deshalb plädiere ich für die Abschaffung der Frauengefängnisse, weil Frauen in der Regel keine Gewaltdelikte begangen haben, sondern für Kleinigkeiten verurteilt werden, die sich irgendwann summieren, wie Schwarzfahren, Diebstahl, Hehlerei.
Film-Tipp zum Thema
- „Monster im Kopf“ - Ein Film, der bei seinen Zuschauerinnen und Zuschauern genau dieses Frage hinterlässt: Was ist wichtiger, dass ein Kind bei seiner leiblichen Mutter aufwächst, auch wenn sie inhaftiert ist, oder dass es außerhalb des Gefängnisses ein Zuhause findet. Autorin und Regisseurin ist Christina Ebelt.
- Und darum geht es: Die werdende inhaftierte Mutter Sandra (Franziska Hartmann) kämpft energisch darum, dass ihr Kind nach der Geburt bei ihr bleiben kann. Ihre Impulsivität und ihre fordernde Mutter haben ihr den Weg für ein schreckliches Verbrechen gebahnt. Trotz ihrer Vorgeschichte will sie sicherstellen, dass sie ihr Kind behalten kann — und versucht daher, im Gefängnis alle Anforderungen zu erfüllen, die an sie seitens der skeptischen Ärzteschaft — es ist eine Risikogeburt —, der Sozialarbeiterinnen und -arbeiter oder des Jugendamts gestellt werden.
- Hier ist er zu sehen: Der Film der Kölner Produktionsfirma 2 Pilots wird seit 9.11. in der Filmpalette und den Lichtspielen Kalk gezeigt.
Die Alternative wäre?
Dass die Frauen eine Fußfessel bekommen und ihr Kind, das beispielsweise in einer Pflegefamilie untergebracht ist, regelmäßig besuchen können. Damit müsste man zudem auch nicht das System Gefängnis finanzieren.
Das ist eine Vision, bleiben wir in der Realität. Was ist machbar?
In einigen Fällen sind diese Mutter-Kind-Einrichtungen eine gute Lösung. Vechta ist etwa ein Musterbeispiel. Ich würde mir aber insgesamt wünschen, dass wir wissenschaftlich genauer untersuchen, ob die Altersgrenze von drei beziehungsweise sechs Jahren noch zeitgemäß ist, ob die Räumlichkeiten, die Angebote, die Besuchszeiten nicht dringend an die Bedürfnisse der Kinder angepasst werden sollten. Es braucht großzügigere Besuchszeiten, was die Häufigkeit und die Dauer betrifft. Vor allem aber wünsche ich mir, dass die Schicksale dieser Kinder mehr in den Fokus der Politik und der Gesellschaft rücken.
Kinder im Gefängnis: Daten und Fakten
- In Deutschland sind rund 100.000 Kinder von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen. Besonders wenn Mütter von Kleinkindern in Haft sind, stellt das alle Betroffenen vor ein Dilemma: Die Kinder in den ersten Lebensjahren von der leiblichen Mutter zu trennen, ist nicht wünschenswert, die Lebensbedingungen in Haft sind für sie aber auch nicht adäquat.
- Die Untersuchung der Monitoring-Stelle der UN-Kinderrechtskonvention aus dem Jahr 2017 stellte fest, dass es in über 75 Prozent der Anstalten keine für die Belange der Kinder und Familien verantwortliche Person gibt. Familienorientierte Angebote werden häufig in Zusammenarbeit mit freien Trägern oder der Seelsorge umgesetzt. Dazu gehören Angebote für Eltern wie Vätergruppen, Familienangebote wie besondere Besuchsräume („Eltern-Kind-Räume“) und Familienfreizeiten sowie Sondersprechstunden für Kinder.
- Der Strafvollzug hat darauf reagiert und möchte mithilfe von zehn Mutter-Kind-Einrichtungen im offenen Vollzug — mit insgesamt 100 Plätzen — die Rechte und Bedürfnisse dieser Kinder stärker berücksichtigen.