Eine neue „wir helfen“-Serie beleuchtet die Probleme und Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen in Köln und der Region.
Kinder- und Jugendhilfe in Köln„Wir sind in Sorge um das Kindeswohl“
„Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf“ – Das viel zitierte nigerianische Sprichwort ist dieser Zeit aktueller denn je. Denn dahinter steht die Erkenntnis, dass Bildung und Erziehung keine Privatsache sind, nicht allein Aufgabe der Eltern. Kinder und Jugendliche brauchen viele Ansprechpartner, Netzwerke und oft auch außerfamiliäre, professionelle Hilfe, um gut und sicher aufwachsen, am gesellschaftlichen Leben teilhaben und Zukunftsperspektiven entwickeln zu können.
Deshalb sind Kitas, Schulen, Vereine, Eltern, die Familie, Nachbarschaft, Gesellschaft, die Stadt und der Staat, kurz: wir alle gefragt, wenn es darum geht, Verantwortung dafür zu übernehmen, dass das auch gelingt.
20 Akteure der Kölner Kinder- und Jugendhilfe beim Runden Tisch
„Um ein Kind zu erziehen, braucht es zwar ein ganzes Dorf, doch dessen gesamtes Umfeld, zu dem auch wir Akteurinnen und Akteure der Kinder- und Jugendhilfe zählen, ist derzeit durch vielerlei Probleme geschwächt“, bringt Ute Theißen, Vorstandsvorsitzende des Sozialdiensts katholischer Frauen e.V. (SkF) die angespannte Lage auf den Punkt.
Theissen ist eine von 20 Teilnehmenden des diesjährigen Runden Tisches, zu dem „wir helfen“ regelmäßig bis zu 30 Vertreterinnen und Vertreter der Kölner Wohlfahrtsverbände, der freien Kinder- und Jugendhilfe, der Verwaltung, Politik und Kirchen einlädt, um gemeinsam über aktuelle Problemlagen, Bedarfe, mögliche Lösungswege für Kinder und Jugendliche zu diskutieren. Deren Credo: „Es ist nicht kurz vor zwölf, es ist Viertel vor eins, das System kann den Kinderschutz kaum noch gewährleisten. Prävention oder frühzeitige Unterstützung bedeuten zunehmend eine enorme Herausforderung.“
Personal fehle im Sozialen Bereich zwar überall, doch beim erzieherischen Hilfebedarf zähle jede Stunde. Dort, wo es am wichtigsten wäre, nämlich belastete Familien präventiv so zu unterstützen, dass es nicht erst zur Kindeswohlgefährdung kommt, scheinen die Ressourcen erschöpft. „Wir sind in großer Sorge um die Präventionsarbeit, denn leider wird zuerst dort gekürzt, wo mögliche Folgeschäden nicht gesehen werden“, sagt Lars Hüttler, Geschäftsführer des Kölner Kinderschutzbundes.
„Not-wendige“ Angebote statt neue Projekte und Initiativen
Statt Energie und Ressourcen in neue Hilfsangebote und Projekte investieren zu können, mit denen die Träger der Kinder- und Jugendhilfe den zusätzlichen Problemlagen begegnen könnten, stehe die Sicherung eines im wahrsten Sinne des Wortes „Not-wendigen “ Angebots im Mittelpunkt beinahe aller Einrichtungen.
Als Hauptursachen nennen die Beteiligten steigende Personal- und Energiekosten, einen massiven Personal- und Fachkräftemangel oder die zunehmende – inzwischen vermehrt auch sichtbare – Kinderarmut. Gleichzeitig vergrößerten die vielfältigen, vor allem aber psycho-sozialen Folgen von Pandemie, Krieg und sinkenden Reallöhnen den Bedarf an Hilfsangeboten für Kinder, Jugendliche und deren Familien erheblich. „Auch bei den Eltern nehmen wir eine Zunahme psychischer Erkrankungen wahr. Das führt oft dazu, dass diese nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder angemessen zu fördern und auf Angebote der Frühförderung angewiesen sind“, sagt der Geschäftsführer des Zentrums für Frühbehandlung und Frühförderung Oliver Tibussek.
Neben Problemen, die im direkten Zusammenhang mit der Erziehung stehen, hätten viele Familien vermehrt auch mit Belastungen wie Krankheit, Sucht, Armut und unzureichenden Betreuungsangeboten zu kämpfen – und bräuchten auch dabei dringend Unterstützung.
Polemisch anmutende Debatte über Einsparungen
Flankiert werden diese Herausforderungen von einer überhitzt geführten und teils polemisch anmutenden öffentlichen Debatte darüber, in welchem Bereich gespart werden sollte. Und ob der Sozialstaat nicht eh schon aufgebläht sei.
Eine aktuelle Studie des Instituts für Makroökonomie und Marktforschung der Hans-Böckler-Stiftung legt nahe, dass die Sozialausgaben hierzulande nicht hoch – und zuletzt auch nicht stark gewachsen seien. Unter den 27 OECD-Ländern, für die die Daten von 2002 bis 2022 verfügbar sind, belegt Deutschland mit einem Zuwachs von 26 Prozent für diesen Zeitraum den drittletzten Platz – und ist damit in puncto Sozialausgaben eines der Länder mit dem geringsten Wachstum. Beim Spitzenreiter Neuseeland haben die realen Sozialausgaben dagegen um 136 Prozent zugelegt.
Personalmangel und steigende Kosten gefährden das Kindeswohl
Der gerade erschienene Kinder- und Jugendhilfereport 2024 bestätigt: „Die Kinder- und Jugendhilfe entwickelt sich krisenhaft. Es fehlt eine ausreichende Anzahl an Personen und an finanziellen Mitteln, die auch künftig steigen werden.“
Die gesetzlich geregelte Kinder- und Jugendhilfe feiert in diesem Jahr 100-jähriges Bestehen. Im achten Buch des Sozialgesetzbuches heißt es: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“
22 Prozent aller Kinder sind hierzulande von Armut betroffen
Bei der Verwirklichung dieses Rechts spielt die Kinder- und Jugendhilfe eine bedeutende Rolle. Sie soll junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen. Sie soll ihnen ermöglichen, gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können, sie vor Gefahren für ihr Wohl schützen und dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für sie und ihre Familien zu schaffen. Die Kinder- und Jugendhilfe ist damit eines der zentralsten sozialen Hilfs- und Unterstützungssysteme für junge Menschen — vor allem aber für die inzwischen knapp 22 Prozent von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen.
Im Rahmen unserer neuen Serie „SOS. Kinder- und Jugendhilfe in Not“ möchten wir über deren enorm gesellschaftlich relevante Bedeutung aufklären, darüber, vor welchen Herausforderungen ihre Akteurinnen und Akteure stehen – und wie sie zum Wohl der jungen Menschen dieser Stadt – und über ihre Grenzen hinaus – gemeistert werden können.
Das sagen Verantwortliche der Kölner Kinder- und Jugendhilfe über die angespannte Situation
„Gerade auch Flüchtlingskinder und geflüchtete Jugendliche brauchen unseren besonderen Schutz, unsere Fürsorge und ein geeignetes Umfeld, damit sie das Schreckliche, das sie und auch ihre Angehörigen in ihren Herkunftsländern und auf der Flucht erfahren mussten, zu verarbeiten. Und um wieder Vertrauen und Mut zu fassen. Wir sollten als Gesellschaft dazu eindeutig Stellung beziehen und auch bereit und in der Lage sein, die erforderliche Unterstützung und Hilfe sicherzustellen. Das wäre ein großer und wichtiger Beitrag für eine erfolgreiche Integration der Kinder und Jugendlichen und würde sich auch positiv auf den weiteren Lebensweg der jungen Menschen, auf Schule, Ausbildung und Studium, auswirken.“
Claus-Ullrich Prölß ist Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrats e.V.
„Ich möchte jetzt nicht schwarzmalen, aber die sichtbar steigende Kinderarmut in Köln, zunehmende Zukunftsängste bei jungen Menschen und Familien unter hohem Druck – das alles macht uns große Sorgen. Wenn jetzt für die Einrichtungen wie den Kinderschutzbund noch Nöte durch die abnehmende öffentliche Finanzierung hinzukommen: Wie kann das gut gehen? Nur gemeinsam können wir das sichere, gesunde und chancengerechte Aufwachsen für die Kölner Kinder und Jugendlichen sichern! Sie müssen auf Platz eins der Prioritätenliste!“
Lars Hüttler ist Geschäftsführer des Deutschen Kinderschutzbundes Köln
„Für viele benachteiligte Kinder und Jugendliche sind die Einrichtungen der Jugendhilfe ein zweites Zuhause. Dabei ist Beziehungskontinuität besonders wichtig. Daher ist es problematisch, wenn die Träger in Zeiten des Fachkräftemangels nicht in die Lage versetzt werden, angemessene Gehälter zu zahlen. Es besteht die Gefahr, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus wirtschaftlichen Erwägungen die Einrichtungen verlassen. Die angespannte Finanzierungssituation sorgt für Verunsicherung bei den Einrichtungen und den Mitarbeitenden. Dies ist nicht förderlich für die alltägliche Arbeitsatmosphäre. Gerade bei kleineren Trägern sind die Leitungen mit den Finanzierungsfragen belastet. Dabei bräuchten Sie ihre volle Energie dringend, um adäquat auf die immer größeren psycho-sozialen Probleme der Kinder und Jugendlichen einzugehen.
Ulrich Bergmann ist Fachreferent für Jugendhilfe bei „Der Paritätische NRW“
„Psychische Belastungen bei Kindern und Jugendlichen haben deutlich zugenommen, dadurch besteht ein höherer Personalbedarf, der nicht refinanziert ist. Aktuelle Kriege und die politische Situation in Deutschland belasten viele Kinder und Jugendliche, Sie fürchten sich davor. Deutschland verlassen zu müssen, wenn die AFD stärker wird. Um diese Themen adäquat aufzugreifen ist ebenfalls ausreichend Personal nötig. Aktuell kommen zudem viele Kinder und Jugendliche hungrig in unsere Einrichtungen. Somit steht die Versorgung der Grundbedürfnisse ebenfalls stark im Mittelpunkt unserer Arbeit.“
Claudia Metternich ist Leiterin in der Jugendarbeit beim Caritasverband für die Stadt Köln e.V.
„Im Zuge der Legalisierung von Cannabis ist man sich zwar weitestgehend einig darüber, dass dringend zusätzliche Suchtpräventions- und Beratungsangebote für Jugendliche und deren Eltern gebraucht werden. Die Kommunen und die spezialisierten Institutionen der Freien Suchthilfeträger werden mit der Finanzierung vom Gesetzgeber aber komplett alleine gelassen. Für die dringend notwendige Ausweitung der bestehenden Hilfeangebote und für lokale Aufklärungskampagnen, die möglichen gesundheitlichen und sozialen Folgen des Cannabiskonsums bei Jugendlichen entgegenwirken, fehlt uns schlicht das Geld.“
Markus Wirtz ist Geschäftsführer der Drogenhilfe Köln gGmbH
„Die Gesellschaft steht vor großen Zerreißproben, die auch jungen Menschen an die Substanz gehen — gerade dort, wo deren Startchancen ins Leben nicht optimal geebnet werden von einem ‚aufgeräumten‘ Umfeld. Verlässliche soziale Projekte der Jugendhilfe sind da eine wesentliche Leitplanke. Dass Träger wie unsere RheinFlanke mit ihrem sportbasiertem Ansatz der Sozialen Arbeit immer wieder lautstark für Bildung und soziale Entwicklung in unserem Land ‚trommeln‘ und den Jugendlichen eine Lobby verschaffen müssen, ist ein Armutszeugnis für die Zivilgesellschaft. Umso wichtiger ist eine Unterstützung durch alle Menschen, die sich überzeugt gegen diese Missstände wenden. Denn nur wer eine Chance bekommt, kann diese auch nutzen!“
Sebastian Koerber ist Geschäftsführer der RheinFlanke gGmbH
„Im Rahmen des‚ Offenen Ganztags‘ an Schulen brauchen Kinder Raum, Zeit und schöne Momente. Um dies bieten zu können, fehlen aktuell Fachkräfte ebenso wie eine ausreichende gesicherte Finanzierung. Auch die räumlichen Kapazitäten sind so begrenzt, dass es viel Kreativität der Mitarbeitenden bedarf. Besonders herausfordernd sind an vielen Standorten die Essenssituationen auf beengtem Raum mit Wechselschichten. Die Hoffnung auf bessere Rahmenbedingungen sind seit der Veröffentlichung der fachlichen Leitlinien der nordrhein-westfälischen Landesregierung hinfällig. Statt dringend notwendiger Verbesserungen im System ist ein ‚Weiter so ‘ mit den vorhandenen Ressourcen kaum zu realisieren. Die Herausforderungen der Jugendhilfe zeigen sich in der Kooperation mit Schule ganz besonders. Kinder brauchen im ‚Offenen Ganztag‘ einen sicheren Raum, Rückzugsorte und vor allem ausreichend Menschen, die ihre Bedürfnisse sehen und verstehen. Der aktuelle Fachkräftemangel und die nicht gesicherte Finanzierung können dies nicht bieten. Anstelle einer dringend nötigen Weiterentwicklung kann momentan kaum der Status quo gehalten werden.“
Inga Zernikow ist Fachberaterin OGS bei „Der Paritätische NRW“
„Die Angebote der Frühförderung sind laut Bundesteilhabegesetz gedacht für Kinder, die behindert oder von Behinderung bedroht sind. Wir erleben seit Jahren eine Verschiebung unserer Zielgruppe hin zu den Kindern, die im Sinne des Gesetzes von Behinderung bedroht sind. Bei einer großen Zahl der bei uns angemeldeten Kinder liegt keine klare Diagnose einer Behinderung mehr vor. Vielmehr sind deren Teilhabemöglichkeiten aufgrund belasteter wirtschaftlicher und sozialer Lebensbedingungen massiv eingeschränkt, was im Verlauf zu erheblichen Beeinträchtigungen in der Entwicklung von Sprache, Kommunikation, geistiger Verarbeitung, sozialer und psychischer Stabilität führt. Auch die Eltern dieser Kinder sind oft hoch belastet, wir erleben zunehmend Eltern mit psychischen Erkrankungen aufgrund multipler Belastungen in ihrem Lebensalltag. Diese Eltern brauchen viel Unterstützung, um eine stabile und unterstützende Beziehung zu ihrem Kind aufbauen und halten zu können. Erschwerend kommt hier hinzu, dass die Kitas derzeit häufig aufgrund von Personalmangel und Raumknappheit nicht die umfassende Entlastung und Förderung bieten können, die eigentlich benötigt würde. Vor diesem Hintergrund wird die Frühförderung nicht nur zur Förderung der Kinder, sondern auch zur Beratung der Eltern und der Fachkräfte benötigt, um die Teilhabe-Bedingungen für die Kinder zu verbessern.“
Oliver Tibussek ist Geschäftsführer des Zentrums für Frühbehandlung und Frühförderung gGmbH