Das Flugtheater „Angels Aerials“ möchte mit seinen Bildungsprojekten die Resilienzfähigkeit von Kindern und Jugendlichen stärken.
Kölner Flugtheater„Ich geh dann mal die Wand hoch“
Ein Teebeutel, der partout nicht in die Tasse gehängt werden möchte, eine Strumpfhose, die zu klein ist und ständig in der Kimme klemmt, ein Toastbrot, das – ist ja klar – mit der frisch geschmierten Seite auf den Fußboden fällt und eine Badewanne, die für zwei einfach zu klein ist.
„Von diesen kleinen Alltagskrisen – und auch den größeren, von Identitäts-, Beziehungs-, Flüchtlings- und Welt-Krisen – sowie deren Folgen handelt unser neustes Theaterstück mit dem Titel ‚Ich geh dann mal die Wand hoch‘“, sagt Susanne Beschorner. Die Schauspielerin, Tänzerin, Regisseurin, Choreographin und Theaterpädagogin hat das „Flugtheater Angels Aerials“ im Jahr 2003 gegründet – seit 2011 bietet das Team auch Kultur- und Bildungsprojekte für Kinder und Jugendliche an, weshalb das Flugtheater im Jahr 2020 in einen gemeinnützigen Verein umgewandelt wurde.
Kölner Theater für junge Menschen in und mit Krisen
Bei „Ich geh dann mal die Wand hoch“ fehlt eine klassische Bühne, die Mimen hängen an Seilen, fliegen durch die Luft, schweben unter der Decke und über dem Publikum oder tanzen senkrecht an Wänden entlang. Das Ensemble des Projekts besteht aus 40 Kindern und Jugendlichen sowie neun erwachsenen Künstlerinnen und Künstlern. Es versteht sich als ein Erlebnistheaterprojekt von, für und mit jungen Menschen – in und mit Krisen – ab sechs Jahren aus den Brennpunktstadtteilen Kalk und Mülheim.
„Krisen sind ebenso persönlich wie global, räumlich wie emotional. Sie entstehen an Grenzen, an denen wir Verstehen üben. Somit ist dieses Stück über Krisen zugleich ein Stück über Toleranz“, sagt Susanne Beschorner. Denn diese Form des Theaters ermögliche, die bearbeiteten Krisen anderer in einem geschützten Raum selbst zu erleben. Und somit über Erfahrungen zu verfügen, die im besten Fall zu Verstehen führen.
Projekt stärkt Selbstbewusstsein und bietet Partizipation
Im gleichberechtigten Zusammenspiel von Erwachsenen und Kindern entstünde eine besondere Art von Theater und - nebenbei - eine besondere Art der Partizipation: „Der Ernst, der Spaß und die Hingabe, mit der die Künstlerinnen und Künstler ihre Profession wahrnehmen, überträgt sich auf die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, verändert sie und setzt einen Prozess der Selbstsicherheit in Gang.“
Bei der Auswahl der jungen Schauspielerinnen und Schauspieler achten Beschorner und ihr Team darauf, dass die Jungen und Mädchen aus allen sozialen Schichten und zu 25 Prozent auch aus anderen Stadtteilen als aus Mülheim und Kalk stammen. „Ich denke, dass eine Durchmischung für alle eine gute Chance ist, sich als Team zu verstehen und gemeinsam ein optimales Produkt auf die Bühne zu bringen.“
Jugendliche müssen mit- nicht gegeneinander arbeiten
Wer mitmachen möchte, muss sich an klare Regeln halten – an Pünktlichkeit, Regelmäßigkeit, Teamarbeit und Durchhaltevermögen. Im Fokus steht das Theaterstück, nicht die Befindlichkeiten der jeweils Einzelnen. „Die Kinder und Jugendlichen müssen miteinander und dürfen nicht gegeneinander arbeiten. Wenn sie sich an einer Wand bewegen, funktioniert das nur, wenn jede und jeder nicht nur seinen beziehungsweise ihren Part spielt, sondern auch darauf achtet, was der Partner, die Partnerin macht“, betont Theaterpädagogin Simone Kieltyka.
Den Schwerpunkt seiner Arbeit legt das Team des Flugtheaters darauf, die Resilienz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, also die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen zu meistern, zu steigern und die individuellen Stärken und Ressourcen der Kinder und Jugendlichen zu fördern. Kindern, die beispielsweise in ihren Klassenverbänden nicht akzeptiert werden, schüchtern sind oder sich aggressiv verhalten, wird durch das Theaterprojekt die Chance eröffnet, sich neu zu orientieren – davon ist Simone Kieltyka, im Hauptberuf Dozentin an der Kölner Sporthochschule, überzeugt: „Wenn auffällige Kinder aus dem gewohnten Umfeld, aus alten Mustern herausgenommen werden, verhalten sie sich ganz anders. Sie passen sich an und respektieren unsere Regeln. Genau das macht das Projekt so stark.“
Neue Bleibe für kleines Theater in den Hallen Kalk
Das kleine Theater hatte bislang keine feste Bleibe, musste permanent die sehr aufwendige „Bühnentechnik“, sprich: Seile, Klettergurte und Sicherungen auf- und abbauen. Doch damit ist jetzt Schluss: Für seine Proben steht dem Flugtheater seit zwei Monaten eine Halle auf dem Gelände der ehemaligen Maschinenfabrik Klöckner-Humboldt-Deutz in Kalk zur Verfügung. Die Stadt Köln möchte die vorwiegend brachliegenden Halle in ein Kunst- und Kreativzentrum umwandeln.
„Wir freuen uns über die neue Bleibe, vor allem darüber, dass die Kinder damit eine feste Anlaufstelle haben. Bei uns arbeiten Profis und Laien auf Augenhöhle, das hebt das Selbstwertgefühl der Kinder. Wir proben, wenn es sein muss, auch täglich und natürlich sind wir alle kurz vor einer Vorstellung sehr aufgeregt, haben Lampenfieber. Wenn die Kinderaugen beim Auftritt vor Publikum leuchten, dann bin ich glücklich,“ sagt Beschorner, die auch nach 20 Jahren noch fasziniert ist vom Fliegen auf, neben und über der Bühne.
Obwohl das Flugtheater von Jahr zu Jahr aufs Neue ums Überleben kämpfen muss, versteht es sich weiterhin als barrierefreies Theater – im baulichen Sinne sowie „frei von Barrieren in den Köpfen und den Geldbeuteln, deshalb sind unsere Angebote auch kostenlos.“ Das aktuelle Theaterstück „Ich geh dann mal die Wand hoch“ wird unter anderem auch von „wir helfen“ und dem Kulturamt der Stadt Köln finanziell unterstützt.
Die nächsten Aufführungen finden im Rahmen des bundesweiten Festivals „Zeit für Zirkus“ am 15. November um 18 Uhr und am 16. November um 14 Uhr im Kreationszentrum Zeitgenössischer Zirkus (CCCC), in der Dillenburger Straße 63, in Köln-Kalk statt. Tickets gibt es online hier >>