Nach 36 Jahren verlässt Marlis Herterich den Vorstand des Kölner Kinderschutzbundes. Ein Gespräch über Kinderrechte zum Abschied - und zum Auftakt der neuen „wir helfen“-Aktion.
Kölner Kinderschutz-Pionierin im Interview„Weil jedes Kind wertvoll ist“
Frau Herterich, seit einem halben Jahrhundert widmen Sie dem Kinderschutz Ihr Leben — nicht nur beruflich. Was macht Kinder so wertvoll und schützenswert?
Weil sie unsere Zukunft sind, einen wunderbar eigenen, reinen, im Sinne von vorurteilsfreien Blick auf die Welt haben und eine beneidenswerte Fantasie. Womit sie in der Lage sind, uns Erwachsenen den Blick zu öffnen für Dinge, die wir selbst nicht mehr sehen. Welche Kinder brauchen besonderen Schutz? All diejenigen, die in einem schwierigen Umfeld aufwachsen, in Armut leben und/oder Gewalt ausgesetzt sind — leider korreliert beides häufig. Natürlich gibt es auch schutzbedürftige Kinder aus reichen Elternhäusern, Jungen und Mädchen, die schon mit vier Jahren zum Juniorchef getrimmt werden, deren Freizeit verplant wird und die keine Freiräume mehr haben. Aber für arme Kinder ist und bleibt es am schwierigsten. Ich habe in meinem (Berufs-)Leben viel Armut gesehen. Arm zu sein tut nie gut, grenzt aus, macht müde, gleichgültig — oder enorm wütend.
Im Rahmen der Kindergrundsicherungsdebatte wurde jüngst wieder viel über Kinderarmut gesprochen, besser gesagt: gemutmaßt. Warum wird sie noch immer relativiert oder gar negiert?
Das macht mich rasend. Als vor ein paar Jahren die Eine-Million-arme-Kinder-Grenze überschritten wurde, war die Empörung zurecht groß — wenn auch nahezu konsequenzlos. Heute gibt es beinahe drei Millionen Kinder, die in Armut oder an der Armutsgrenze leben — und es fällt den Menschen nichts Besseres ein, als darüber zu diskutieren, ob diese Kinder einen deutschen Nachnamen haben oder nicht. Es ist völlig egal, ob sie aus der Ukraine, Uckermark, aus Syrien oder Saarbrücken kommen: Wenn Kinder in Armut leben, müssen wir alles tun, damit sie gut groß werden, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Aufenthaltstitel. Wir müssen Armutsrisiken verringern und gleiche Entwicklungs- und Teilhabe-Chancen für Kinder und Jugendliche schaffen.
Sie spielen auf das Argument an, Geflüchtete und Zugewanderte seien schuld daran, dass die Zahl der armen Kinder hierzulande so hoch sei — und die Kindergrundsicherung letztlich die versteckten Kosten der „unkontrollierten Migration“ auffange?
Kinder aus der Ukraine und anderen Kriegsgebieten haben Mord und Terror erlebt, sind nicht selten schwer traumatisiert. Da wirkt es doch sehr zynisch, wenn sie hier unter arbeitsmarkts-, bildungs- oder asylpolitischen Gesichtspunkten gehandelt werden. Alle Kinder haben einen Anspruch auf ein gutes, gesundes Aufwachsen und gesellschaftliche Teilhabe — ideell wie rechtlich verbrieft.
Auch mit der UN-Kinderrechtskonvention, die Deutschland im Jahr 1990 unterschrieben hat, verpflichtet sich unser Staat dazu, Kinder zu schützen und ihre Rechte zu wahren. Wie tief ist die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit?
Die UN-Kinderrechtskonvention ist schon ein unglaublich großes Ding. Deshalb wundert es doch sehr, dass sie im Koalitionsvertrag zur Kindergrundsicherung nicht einmal erwähnt wurde. Sowohl im Grundgesetz wie in der UN-Kinderrechtskonvention ist die Beteiligung von Kindern festgeschrieben, nur findet sie fast nirgends statt. Kinder werden, wenn überhaupt, nominell angehört, aber letztendlich nicht ernst genommen.
Woran liegt das?
Dahinter steckt die konservative Haltung: Kinder können nicht wissen, was gut oder schlecht für sie ist. Das ist Quatsch! Kinder wissen ganz genau, was sie brauchen, was ihnen guttut – und was nicht.
Ist diese Haltung auch der Grund dafür, dass es die Kinderrechte bis heute nicht ins Grundgesetz geschafft haben?
Ein Skandal! Auch dazu ist unser Land laut UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet. Dass es nicht geschieht, wird auch von der National Koalition, die für die Umsetzung der Konvention in Deutschland zuständig ist, konsequent angemahnt. Aber scheinbar ist die konservative Haltung, nur Eltern hätten das Recht, über und für ihre Kinder zu entscheiden, zu stark in unserem Land. Kinder sind aber nicht das Eigentum ihrer Eltern!
Würde sich daran denn tatsächlich etwas ändern, wenn die Rechte im Grundgesetz stünden?
Ja, weil es dann einfacher wäre, sie einzufordern. Gesetze verändern die Haltung und das gesellschaftliche Klima. Bestes Beispiel dafür ist der Paragraf 1631, übrigens einer unserer größten Erfolge, denn der Kinderschutzbund hat den Anstoß dafür gegeben, dass er den Einzug ins Bürgerliche Gesetzbuch schafft und seit 2001 das Recht von Kindern auf eine gewaltfreie Erziehung festschreibt. Seitdem würde sich doch kaum noch jemand trauen, öffentlich zu behaupten: Eine Ohrfeige hat noch keinem Kind geschadet.
Apropos Erfolge: Verraten Sie uns die Highlights Ihrer 41-jährigen Tätigkeit als Kinderschützerin — und die Rückschläge?
Als der Deutsche Kinderschutzbund im Jahr 1953 gegründet wurde, waren Kinderarmut und körperliche (häusliche) Gewalt die bestimmenden Themen, später kam Bildung hinzu. Sexualisierte Gewalt war lange, lange Zeit völlig tabuisiert. Dass es uns gelungen ist, dieses Thema hinter den verschlossenen Türen hervorzuholen, und einen energischeren Blick drauf zu haben, sehe ich als Errungenschaft — und auch, dass das gesellschaftliche Verständnis für Kinderschutzthemen größer geworden ist, wenn auch noch immer nicht ausreichend. Als größte Enttäuschung empfinde ich, wie gesagt, dass die Kinderrechte nicht im Grundgesetz stehen. Ich glaube auch, dass ich das nicht mehr erleben werde, und ich möchte 100 Jahre alt werden.
Welches sind die größten Herausforderungen des Kinderschutzes?
Neben der wachsenden Kinderarmut sehe ich die sexualisierte Gewalt, die durch die Digitalisierung einen neuen Schub erhalten hat, als großes Problem. Durch das Internet sind noch mehr Gefahren entstanden. Auch in puncto Bildungsgerechtigkeit sehe ich enormen Nachholbedarf. Unser Schulsystem, mein persönliches Aufreger-Thema, halte ich für äußerst problematisch. Das fängt schon bei den Gebäuden an: Es ist ein Skandal, in welche Baracken wir unsere Kinder zum Lernen schicken!
Das Gute zum Schluss: Was brauchen Kinder, um sicher, gesund — und wertgeschätzt aufzuwachsen?
Neben körperlicher, finanzieller und emotionaler Sicherheit brauchen sie Respekt und Resilienzpartner. Das kann ein Familienmitglied sein, eine Freundin, ein Nachbar oder eine Sozialarbeiterin sein, eine Person eben, bei der sie sich Hilfe und Rat holen können. Die Erfahrung zeigt, dass Kinder dannen häufig in der Lage sind, schwierigste Verhältnisse wegzustecken und die Chance erhalten, als Erwachsene gut zu leben.
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