Mental Health„Kinder brauchen mehr Langeweile“

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Ein kleines Mädchen mit einer großen, runden Brille hat sein Gesicht auf seine Hände gestützt und schaut sehr gelangweilt aus.

Langeweile und Enttäuschung sind wichtig für Kinder, sagt der Psychologe und Generationenforscher Rüdiger Maas.

Generationenforscher Rüdiger Maas kritisiert im Interview: Helikopter-Eltern verbauen ihrem Nachwuchs die Zukunft.

Herr Maas, in Ihren Büchern behaupten Sie, dass die neue Generation lebensunfähig sei, weil die Eltern durch ihre Erziehung deren Zukunft verbauen. Inwiefern?

Rüdiger Maas: In Deutschland gibt es aktuell 25 Prozent Helikopter-Eltern, was bedeutet, dass jedes vierte Kind rund um die Uhr bewacht und bespielt wird. Die Kinder werden zur Schule gefahren, ihnen werden die Schuhe angezogen und die Suppe kalt gepustet. Auch die Freizeit ist mit diversen Aktivitäten durchgetaktet. Außerdem gibt es noch die Rasenmäher-Eltern, die ihren Kindern alle Hürden aus dem Weg räumen. Eine Kombination aus beiden Typen ist fatal für die Zukunft der Kinder, sie können dadurch zu völlig unselbstständigen und ängstlichen Menschen erzogen werden.

Zuhause in der anlogen Welt werden die Kinder von ihren Eltern für jegliche Peanuts gelobt; in der digitalen Welt dagegen werden sie, je nachdem, was sie posten, verbal geohrfeigt.
Rüdiger Maas, Generationenforscher

Weshalb verurteilen Sie diesen Erziehungsstil, ein Kind muss sich doch nicht erst die Finger verbrennen, um zu lernen, dass Feuer heiß ist?

Die Crux ist: Diese Kinder werden dadurch nie mit Problemen konfrontiert. Sie lernen nicht, dass man mit Ideen, Fleiß und Ausdauer auch allein etwas erreichen kann. Ein Kind, das nie Langeweile haben darf, entwickelt keine Fantasie. Eltern sind keine Clowns oder Entertainer, sie sollten ihren Nachwuchs nicht ständig bespielen, sondern ihm Freiräume lassen. Durch Langeweile und Widerstände lernen die Kinder Selbstständigkeit. Sie entdecken ihre Umgebung und werden erfinderisch und kreativ. Diese permanent durchgeplanten Nachmittage mit Musikunterricht, Ballett, Hockey und Hüpfburg können sich am Ende auch nachteilig auswirken.

Woran liegt es, dass viele Eltern zu sehr bemüht sind?

Eine Faustregel lautet: Je höher die Bildung, desto höher die Überbehütung. Zudem werden die Eltern im Durchschnitt immer älter und ihr Kind wirkt oft wie ein weiterer geplanter Baustein im älter werdenden Leben: Erst Karriere, dann Partner, dann Haus, dann Kind. Sie arbeiten an dem Nachwuchs wie an einem Projekt. Sie zerdenken ihr Kind, handeln nicht aus dem Bauch heraus, sondern googlen alle Erziehungsfragen, lesen jeden Ratgeber. Das Kind ist aber ein eigenes Individuum, und wir müssen dem Kind die Chance geben, zu reifen und auch selbst Ideen zu entwickeln. Die bildungsfernen Eltern hingegen setzen meist auf Digitalisierung. Viele kaufen bereits ihrem vierjährigen Kind ein Smartphone oder ein Tablet und bilden sich ein, dass digitale Aufrüstung alleine schon klug macht.


Zur Person

  • Rüdiger Maas ist einer der bekanntesten deutschen Generationenforscher. Er hat Psychologie in Deutschland und Japan studiert und gründete 2017 das Institut für Generationenforschung. Arbeits- und Forschungsschwerpunkt ist die Frage, wie sich die Generationen gegenseitig beeinflussen.
  • Die Ergebnisse der Studien seines Instituts hat Maas in Büchern veröffentlicht, mit zum Teil provokativen Titeln wie „Glücklich durch Frust. Warum Langeweile und Widerstände unsere Kinder stark machen“ (GU Verlag). 
Generationenforscher und Psychologe Rüdiger Maas

Generationenforscher und Psychologe Rüdiger Maas


Ein Ergebnis Ihrer Studie ist, dass immer mehr Kinder und Jugendliche unter Angstzuständen und Depressionen leiden. Wie passt das mit der Überbehütung zusammen?

Die meisten Eltern vergessen, dass ihre Kinder in der Jugend in zwei Welten leben, in einer analogen und in einer digitalen. Während sie die analoge Welt ihrer Kinder minuziös überwachen, wissen sie gar nicht, wie hart die Gesetze in der digitalen Welt sind. Zuhause in der anlogen Welt werden die Kinder von ihren Eltern für jegliche Peanuts gelobt; in der digitalen Welt dagegen werden sie, je nachdem, was sie posten, verbal geohrfeigt. Wenn ich vermeintlich dick, hässlich oder homosexuell bin, wird meine Reichweite wird bei Tik Tok automatisch heruntergefahren. Die Anzahl der Follower und Likes und der ständige Vergleich mit anderen macht für alle ersichtlich, wie beliebt oder unbeliebt man ist. Diese Diskrepanz müssen viele Jugendlichen oft alleine bewältigen, da die Eltern häufig gar kein Verständnis dafür haben.

Raten Sie also zu einem konsequenten Handyverbot?

Nein, das wäre absolut nicht zeitgemäß. Aber die Handynutzung bei Kindern darf nicht völlig unbekümmert sein. Eltern sollten unbedingt Bescheid wissen, mit wem und vor allem was ihre Kinder via Handy und Co konfrontiert werden. Jedes dritte Kind in Deutschland hat beispielsweise schon vor dem 15. Lebensjahr echte Morde auf Social Media konsumiert.

Eltern müssen mit ihrer Erziehung eine starke Resilienz bei ihren Kindern aufbauen, damit ihre Kinder in der digitalen Welt überleben. Hier sehe ich die größte Gefahr für die Zukunft der nächsten Generation.
Rüdiger Maas, Generationenforscher

Was können Eltern tun, damit ihre Kinder sich zu selbstverantwortlichen Persönlichkeiten entwickeln und lebenstüchtig werden?

Sie sollten in der analogen Welt ihren Kindern mehr zutrauen. In der digitalen Welt jedoch sollten sie stärker eine Vorbildrolle wahrnehmen. Eltern müssen mit ihrer Erziehung eine starke Resilienz bei ihren Kindern aufbauen, damit ihre Kinder in der digitalen Welt – in Anführungsstrichen – überleben. Hier sehe ich die größte Gefahr für die Zukunft der nächsten Generation.

Das aktuelle Jahresmotto von „wir helfen“ lautet: Damit alle Kinder bei uns eine Zukunft haben. Sollten wir künftig auch Erziehungsseminare für Eltern unterstützen?

Ich wäre eher für einen Digitalführerschein. Bevor ich einem 13-Jährigen ein Handy kaufe, sollte ich als Erwachsener wissen, was in der digitalen Welt los ist, wie Social Media funktioniert. Die Eltern sollten auf jeden Fall mit der permanenten Bespielung und Überbehütung ihrer Kinder aufhören und ihnen die Freiheit schenken, Dinge selbst zu entdecken und daran für die Zukunft zu wachsen. 

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