ProjektWenn das Klassenzimmer zum Tatort wird
Köln – Sechstklässler einer weiterführenden Kölner Schule legen sich nacheinander auf eine Mitschülerin und imitieren auf ihrem Körper sexuell Eindeutiges. Nicht nur einmal. Wiederholt. Der Fall kommt aufgrund einiger engagierter Lehrerinnen ans Licht – was ungewöhnlich ist für diese Zeit, Mitte der Neunziger.
„Sexualisierte Gewalterfahrungen unter Gleichaltrigen gab es schon immer“, sagt Ursula Enders. Auf dem Schulhof. In der Vereinshalle. Im Jugendclub. Das bestätigt der Beratungsalltag der Diplom-Pädagogin – die vor 30 Jahren denn Verein „Zartbitter Köln“ mitgründete und heute leitet – und auch internationale Studien belegen: Ein Drittel aller sexualisierter Gewalthandlungen werden von Jugendlichen ab zwölf Jahren verübt.
Jenseits der Vorstellungskraft
Speak!-Studie über sexualisierte Gewalt: Hauptrisiko sind Gleichaltrige
55 Prozent der Mädchen und 40 Prozent der Jungen haben sexuelle Beleidigungen, Belästigungen im Internet, Konfrontation mit Pornografie oder die Verbreitung von Gerüchten sexuellen Inhalts (also nichtkörperliche Formen sexualisierter Gewalt) erlebt. Die Schule steht auf Platz eins der Orte, an denen diese Taten geschehen, gefolgt vom Internet, dem öffentlichen Raum, der Party und der eigenen Wohnung.
Körperlich sexualisierte Gewalt haben 30 Prozent der Mädchen und fünf Prozent der Jungen erfahren, sind z.B. gegen ihren Willen angefasst, geküsst oder am Geschlechtsteil berührt worden. Die meisten Taten geschehen im öffentlichen Raum, gefolgt von Partys, Schule und dem Zuhause.
Schwere Formen wiederholter körperlicher sexualisierter Gewalt, also strafrechtlich relevante Taten wie schwere Belästigung, Nötigung oder Vergewaltigung, erlebt mehr als jedes zehnte Mädchen, Jungen sind zu drei Prozent betroffen.
36 Prozent der Jungen und 21 Prozent der Mädchen haben selber schon einmal Formen sexueller Gewalt angewandt. Zeugen sexualisierter Gewalt wurden 70 Prozent der Jugendlichen.
Quelle: „Speak!“-Studie (2017), eine repräsentative Umfrage, für die 2719 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 9 und 10 (14-16 Jahre) an allgemeinbildenden Schulen in Hessen befragt wurden.
Was kaum jemand weiß und wissen möchte, zählt zum Alltag von Ursula Enders und ihren fünf Kolleginnen und Kollegen von der Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen. „Mehr als 100 Beratungsanfragen zu diesen Fällen gingen allein 2016 bei uns ein“, sagt Enders und berichtet von massiven Übergriffen durch Jugendliche – meist Jungen, in einigen Fällen Mädchen.
Da betäuben zwei Sechstklässler eine Schulfreundin während einer privaten Übernachtung, missbrauchen das Mädchen, halten ihr Verbrechen mit dem Handy fest und verbreiten das Video in der Schule. Da drohen Jugendliche Jungen einer Mitschülerin, sie auf der Klassenfahrt zu vergewaltigen. Treten Mädchen einem Mitschüler so fest zwischen die Beine, dass der operiert werden muss. Finden andere grausame sexuelle Aufnahmerituale oder Mutproben in Jugendgruppen statt. „Und dennoch wird das große Ausmaß sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen bis heute tabuisiert“, sagt Enders.
Weil Institutionen und Eltern um ihren guten Ruf besorgt sind. Weil jugendliche Zeugen Angst haben, selbst zum Opfer zu werden. Weil Täter nicht informiert sind über die Strafbarkeit ihrer Handlungen.
Täterkarrieren verhindern
In den vergangenen Jahren engagierten sich viele Pädagogen für den Schutz der Opfer, „glauben jedoch oftmals allein durch pädagogische Maßnahmen jugendliche Täter stoppen zu können“ – was Enders für eine Fehleinschätzung hält. „Denn die Chancen stehen gut, sexuell übergriffiges Verhalten in jungen Jahren durch therapeutische Angebote zu beenden“, sagt sie.
Ohne Hilfe indes bestehe die Gefahr, dass sich das Verhalten verfestige und ein Jugendlicher in eine Täterkarriere einsteige. Weshalb Enders auch dafür plädiert, sexuell übergriffiges und gewalttätiges Verhalten klar zu sanktionieren – mit der Auflage, sich Hilfe bei einer Beratungsstelle für jugendliche Täter zu suchen.
Auch zusehen macht krank
Ein weiteres Problem: „Wenn Mitarbeiter von Schulen, Vereinen oder anderen Jugendhilfeeinrichtungen mit Fällen sexueller Gewalt in Gruppen konfrontiert sind, werden aufgrund der Vielschichtigkeit und Komplexität der Konflikte häufig die Belastungen der Opfer unterschätzt, insbesondere, wenn es sich um Jungen handelt“, sagt Enders.
Ähnlich ergehe es den Augenzeugen, denen kaum Beachtung geschenkt werde, obwohl sie häufig genauso belastet seien wie die Betroffenen. „Sie fühlen sich schuldig, nicht geholfen zu haben, leiden unter Angst, selbst zum Opfer zu werden, wenn sie Hilfe suchen. Auch sie haben nicht selten mit gravierenden Spätfolgen zu kämpfen“, sagt Enders und erzählt von einer Schülerin, die „nur“ Zeugin der grenzverletzenden Rituale in ihrer Schulklasse war, und dennoch unter massiven psychischen Folgen leidet.
Mit „Respekt für Dich!“, einem in Einzelfällen bereits erprobten und von „wir helfen“ unterstützten Interventionsprojekt, bietet „Zartbitter“ ab Herbst jungen Menschen, deren Lebensraum zum Tatort sexueller Gewalt durch Gleichaltrige wurde, Hilfe an. Um die gewalttätige Atmosphäre in der Gruppe aufzuarbeiten – „und zwar mit, nicht gegen die Jugendlichen“, wie Enders betont.
Konkret bedeutet das: In zwei parallel stattfindenden Workshops für Mädchen und für Jungen erarbeiten die Schüler mit Unterstützung der Fachkräfte von „Zartbitter“ Regeln zur Achtung persönlicher Rechte. Welche sind das? Wann wurden sie verletzt? Welche braucht wer, um sich zu schützen?
Die Erfahrungen mit ersten Workshops haben gezeigt: „Jugendliche erleben diese meist als sehr entlastend. Denn die Offenheit und Aufarbeitung in der Gruppe geben Kraft, sich gegen die sexuelle Gewalt Einzelner abzugrenzen“, sagt Enders.
Die eigenen Rechte kennen
Sind Kinder und Jugendliche über ihre Rechte informiert, stärke das auch diejenigen, die aus Angst bislang geschwiegen haben. Und es motiviert, so Enders, Jungen, die Opfer von Übergriffen wurden, auszupacken. „Es fällt ihnen leichter zu sagen: Meine Rechte wurden verletzt , als öffentlich zu machen: Ich bin ein Opfer. Das ist mit dem männlichen Selbstbild leider noch immer nicht vereinbar.“
Gemeinsam mit den Schülern einer Klasse, in der Jungen von Klassenkameraden massiv belästigt wurden, hat „Zartbitter“ zum Beispiel einen Rechte-Katalog für die Klassenfahrt erarbeitet, auf dem jeder Schüler unterschrieb, die Grenzen Rechte der anderen zu achten. Auf einem Feedback-Fragebogen haben die Schüler im Anschluss an die Reise notiert, ob die Regeln für einen respektvollen Umgang eingehalten wurden.
Leuchtturmprojekt
Die Antworten machen Mut: Dass sich in der Klasse durch den offenen Umgang mit den Problemen die Atmosphäre der Gewalt auch langfristig reduziert. Und: Dass „Zartbitter“ mit seinem Projekt den Anstoß dafür gibt, dass dieses dringliche Thema an möglichst vielen Schulen Kölns – beherzt– angegangen wird.