Studie zu Jugendkriminalität„80 Prozent der Jungen begehen mindestens eine Straftat“
Köln – Herr Boers, das zentrale Ergebnis Ihrer gemeinsamen Studie mit Herrn Reinecke lautet: „Jugendkriminalität erledigt sich mit der Zeit meistens von selbst“. Warum?
Zwei grundsätzliche Entwicklungen spielen eine Rolle: Zum einen ist Kriminalität unter Jugendlichen am weitesten verbreitet. Sie steigt mit Ende des Kindesalters zunächst deutlich an. Unter Vierzehnjährigen sind gelegentliche Diebstahls-‐ oder einfache Gewaltdelikte bei einem Viertel der Jungen und einem Sechstel der Mädchen nicht ungewöhnlich. Schaut man bis zum 18. Lebensjahr, dann gaben in unseren Befragungen 80 Prozent der Jungen und 70 Prozent der Mädchen an, mindestens einmal eine Straftat – meist geht es um Ladendiebstahl – begangen zu haben. Zum anderen ist der Anstieg jedoch auf das frühe Jugendalter begrenzt. Schon ab dem 15. und 16. Lebensjahr geht die Jugendkriminalität ebenso stark zurück wie sie angestiegen ist.
Finden Sie die hohen Prozentzahlen der „ersten Taten“ nicht besorgniserregend?
Nein, tatsächlich sehen wir leichte und mittlere Kriminalität im Jugendalter als relativ normal an. Normen lernt man nicht theoretisch, sondern am besten im Konflikt. Die Jugendlichen testen ihre Grenzen aus – und überschreiten sie. Das ist die Stunde der Pädagogik. Den beschriebenen Rückgang nennen wir in der Kriminologie Spontanbewährung.
„Spontan“ meint: Die Jugendkriminalität regelt sich von innen aus der Gesellschaft heraus, ohne dass Polizei und Justiz von außen einen großen Einfluss nehmen. In einer gut funktionierenden Gesellschaft regelt sich das meiste mit zugewandten und aufmerksamen Eltern und Lehrern, unter Freunden und in Vereinen von selbst.
Plädieren Sie deshalb für Nachsicht und Verfahrenseinstellungen bei jugendlichen Straftätern?
Genau. So sieht das auch seit Langem das Jugendstrafrecht. Die beschriebene Spontanbewährung wird von vorschnellen strafrechtlichen Interventionen nur gefährdet. Eine „Null-Toleranz“-Politik, die gleich beim ersten Vergehen strafrechtlich eingreifen möchte, ist kontraproduktiv. Das kann unser System auch gar nicht leisten. So viele Polizisten, Staatsanwälte und Richter können wir nicht einstellen. Außerdem würden Jugendliche durch Bestrafung frühzeitig stigmatisiert und sogar eher in die Kriminalität getrieben.
Gilt das auch für die so genannten „Intensivtäter“? Sie machen statistisch fünf bis acht Prozent ihrer Altersgruppe aus.
Sie sind die problematische Tätergruppe, weil sie die meisten Gewaltdelikte ihrer Altersgruppe begehen. Bei Intensivtätern muss interveniert werden, weil sie meist nicht die frühe Spontanbewährung durchlaufen und wie andere von sich aus mit 15 oder 16 Jahren aussteigen. Aber auch diese Täter beenden überwiegend mit der Volljährigkeit ihr strafbares Verhalten. Nur ein ganz kleiner Teil macht weiter – und bevölkert am Ende leider die Gefängnisse.
Wie gelingt ein Ende der kriminellen Karriere?
Zwei Faktoren sind entscheidend: der Aufbau neuer sozialer Beziehungen – eine Partnerschaft, die nichts mit dem Milieu zu tun hat, neue Freunde, reguläre Arbeit – und die kritische Auseinandersetzung mit den Taten. Der Täter sollte sich mit seinem Lebensstil auseinandersetzen und sein Selbstkonzept ändern. Er muss sich fragen: Will ich so weiterleben? Sollen Straftaten weiter Teil meines Lebens sein? Die Forschungsergebnisse dazu sind relativ neu und sehr ermutigend.
Inwiefern ermutigend?
Früher war eine verbreitete Ansicht: Früh kriminell, immer kriminell. Besonders wenn das Elternhaus durch schwierige Faktoren wie Gewalt und Drogenabhängigkeit geprägt war. Das können wir mit der Studie stark relativieren. Natürlich muss man genau hingucken, wenn Kinder früh auffällig werden. Wir können aber viel tun, um selbst Intensivtäter zurückzuholen.
Zum Beispiel?
Klassische Sozialarbeit unterstützen. Menschen in Arbeit bringen. Für die Jugendhilfe und die Gerichte ist der Umgang mit Intensivtätern eine starke Belastung. Aber wenn die Zuständigen Geduld aufbringen, konsequent und beharrlich bleiben, können dennoch Erfolge erzielt werden.
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Die Studie wurde in Duisburg durchgeführt. Warum?
Wir haben damals Duisburg ausgewählt, weil dort viele Einwohner einen Migrationshintergrund haben und die Stadt zahlreichen sozialen Problemen ausgesetzt ist. Duisburg ist pro Kopf gemessen „die türkischste Stadt Deutschlands“. In den 1990er und Anfang der 2000er Jahre wurde viel über die größere Kriminalität junger Migranten diskutiert. Dabei ging es vor allem um die Gewalt von männlichen Migranten der zweiten Generation. Bei Diebstahlsdelikten gab es nie einen Unterschied. Und türkische Mädchen waren bei allen Delikten sogar weniger auffällig als deutsche. Unsere Ergebnisse zeigten nun erstmalig, dass in der dritten Generation auch bei den Gewaltdelikten keine größeren Unterschiede mehr bestanden.
Was macht Duisburg richtig?
Es ist aufgefallen, dass die Duisburger Haupt- und Gesamtschulen gewalttätiges Verhalten unter den Schülern schon früh mit pädagogischen Projekten angegangen sind. Es gab zahlreiche auffangende Angebote: Niemand blieb alleine, auch nach der Schule nicht. Diese Schulen sind auch uns Wissenschaftlern gegenüber offen mit ihren Problemlagen umgegangen. Einigen Gymnasien war es hingegen lieber, dass wir bei Ihnen keine Befragung durchgeführt haben.