Ein inklusives Theaterstück macht im Urania-Theater am 10. September auf alkoholgeschädigte Kinder aufmerksam.
Theaterstück zum FASD-Tag„Ich bin Marc, mein Gehirn ist chaotisch“
Marc Delius trägt seine Mission in rot-weißen Lettern auf der Brust: „FASD anders anders“ steht auf dem T-Shirt des 21-Jährigen, der seine unsichtbare Behinderung in der Öffentlichkeit sichtbarer machen – und darüber aufzuklären möchte, was sich hinter der Abkürzung verbirgt. Dafür hat er auch ein Solo-Theaterstück geschrieben, das er am 10. September im Kölner Urania-Theater aufführen wird – anlässlich des weltweiten FASD-Tages am 9. September.
„Mein Gehirn ist chaotisch, geordnet – leer und überfüllt. Ich will, dass andere Leute mich verstehen und wissen, dass ich eine Behinderung habe, die man nicht sieht. Wegen der ich manchmal Sachen mache, die ich gar nicht will, aber in diesem Moment nicht kontrollieren kann. Ich bin nicht nur anders, ich bin anders anders. Ich habe FASD.“
FASD ist die Abkürzung des englischen Begriffs „Fetal Alcohol Spectrum Disorder“, auf Deutsch: Fetale Alkoholspektrumstörungen. Der Sammelbegriff steht für eine Reihe von Schädigungen eines Kindes, die dadurch entstehen, dass seine Mutter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hat. Der gelangt nämlich unmittelbar über die Nabelschnur in den Blutkreislauf des Ungeborenen und kann, da Alkohol ein Zellteilungsgift ist, sich auch schon bei kleinen Mengen schädigend auf den sich bildenden Organismus auswirken.
Schon ein Prosecco in der Schwangerschaft kann fatal sein
„In der Gesellschaft muss ankommen, dass Alkohol nicht in die Schwangerschaft gehört. Schon ein Glas Prosecco kann fatale Folgen haben, die zu einer strukturellen Hirnschädigung und zu vielfältigen Beeinträchtigungen führen können“, warnt Sabine Stein vom FASD-Fachzentrum in Köln.
Die Ergotherapeutin ist Mutter von drei inzwischen erwachsenen Kindern. Vor zwölf Jahren hat ihre Familie einen Pflegesohn aufgenommen, der an FASD leidet. Die Erfahrungen mit dem Jungen, ihre Einstellung zum Leben und ihr Beruf haben Sabine Stein dazu bewegt, das Thema FASD pädagogisch-therapeutisch neu zu denken und an innovativen Wegen im Umgang mit der Erkrankung zu arbeiten.
Kölner Peergroup im FASD-Fachzentrum gegründet
Gedacht, getan: Vier Jahre ist es her, dass Sabine Stein – mit finanzieller Unterstützung von „wir helfen“ – im Kölner Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD eine Peergroup für junge Menschen zwischen 16 und 22 Jahren gegründet hat. Seitdem treffen sich die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer einmal im Monat, unternehmen etwas zusammen und manchmal entstehen daraus auch Freundschaften.
„Solche Treffen sind wichtig, dort kommen junge Menschen zusammen, die Gleiches erleben und erleiden, sehr ähnliche Themen haben, und im Alltag meist sehr einsam sind. Wir möchten Multiplikatoren sein und freuen uns, wenn solche Peergroups bundesweit gebildet werden“, so Stein.
Junger FASD-Betroffener spielt sich auf der Bühne selbst
Auch Marc Delius freut sich immer auf diese Treffen, für die er gemeinsam mit seinem Betreuer Rafael Evans regelmäßig aus Bochum anreist. Besonders stolz ist Marc aber darauf, dass er über sein Leben mit der unsichtbaren Behinderung gemeinsam mit der freien Choreographin Karma Frankl-Groß vom jungen Schauspielhaus Bochum ein Theaterstück erarbeitet hat.
„Ich spiele mich selbst und habe alle Texte geschrieben. Vor einer Aufführung bin ich hibbelig, habe Herzrasen, wenn ich die Leute im Zuschauerraum sehe. Aber wenn die klatschen, dann macht mich das sehr glücklich. Vor allem habe ich Respekt vor mir selbst, dass ich mir das zutraue“, sagt der 21-Jährige.
Während der Aufführung wird sein Bild auf große Leinwände projiziert, seine Texte, die Schauspielerinnen und Schauspieler des Bochumer Ensembles zuvor eingelesen haben, erklingen über Lautsprecher. Auf dem Bühnenboden liegen verstreut seine handgeschriebenen Zettel, die immer wieder von einem Ventilator durch die Luft gewirbelt werden. Das Theaterstück dauert 35 Minuten und war bislang nur in Bochum zu sehen.
FASD-Performance in Köln: Erstmals außerhalb von Bochum
„Die Solo-Performance ist sehr eindrucksvoll. Die Zettel symbolisieren Marcs wirren Gedanken, das Chaos in seinem Kopf. Er tanzt dabei, sammelt die Zettel immer wieder auf und versucht, sie zu ordnen. Ich bekomme dabei Gänsehaut“, gesteht Stein, die sich dafür starkgemacht hat, dass das inklusive Theaterstück auch in Köln auf die Bühne kommt.
Marc ist in einer Pflegefamilie aufgewachsen, hat eine Förderschule besucht und arbeitet in einer Werkstatt für Behinderte im Bochumer Garten- und Landschaftsbau. Inzwischen wohnt er in einer Wohngruppe der Jugendhilfe. „Marc ist ein liebenswerter Kerl, der einem sehr zugewandt ist und für einen nur das Beste möchte. Manchmal rastet er aber aus heiterem Himmel aus, provoziert und beleidigt mich. Ich habe gelernt, nicht darauf zu reagieren, damit die Situation nicht eskaliert. Marc weiß, dass er provoziert, kann seine Impulse aber nicht steuern. Deshalb versuche ich, das Setting für ihn stets optimal zu gestalten“, sagt Rafael Evans.
Ausrasten und beleidigen, weil die Impulse nicht zu steuern sind
Der 33-jährige Heilpädagoge betreut Marc seit vier Jahren engmaschig. Das ist nötig, da Marc, wie viele andere Betroffene, große Probleme hat, seinen Alltag eigenständig zu bewältigen. Ursache dafür ist eine Schädigung des Frontalhirns und der daraus resultierenden Störungen der Exekutivfunktionen, also der kognitiven Fähigkeiten, die für die Kontrolle und Selbstregulierung des Verhaltens erforderlich sind, wie Planen, Entscheidungen treffen oder entgegen der Gewohnheiten handeln.
Nach Schätzungen der Bundesdrogenbeauftragten kommen in Deutschland jährlich rund 12.000 Kinder mit einer Fetalen-Alkoholspektrumstörung zur Welt, damit ist FASD hierzulande die häufigste nicht-genetische Behinderung. Rund eine Million Menschen leben in Deutschland mit dieser Erkrankung.
Alkoholgeschädigte Kinder wirken äußerlich gesund, auch wenn neben den genannten Störungen zudem ihr Gefahrenbewusstsein meist beeinträchtigt ist, sie aus Fehlern nicht lernen können. Sie haben häufig Lern- und Verhaltensauffälligkeiten und werden mit ADHS fehldiagnostiziert, da ihre Impulskontrolle eingeschränkt ist und sie zu sozial unangemessenem Verhalten sowie Hyperaktivität neigen.
Klauen ist nicht gleich Klauen: Kölner Fachzentrum berät auch die Polizei
„FASD hat nichts mit dem Intelligenzquotienten zu tun, es gibt auch einige hochbegabte Betroffene, aber ihr biologisches Alter stimmt fast nie mit dem emotionalen Alter überein. Von FASD-Betroffene fallen beispielsweise auf durch extremes, etwa aggressives Verhalten oder Stehlen – wobei Letzteres aufgrund von Impulsdurchbrüchen ihres strukturell geschädigten Gehirns geschieht, da hilft keine Strafe. Deshalb beraten wir neben Pflege- und Adoptiveltern auch die Polizei und Jugendgerichtshilfe“, sagt Stein.
Seit seiner Gründung verfolgt das Kölner Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD das Ziel, die unsichtbare Behinderung nicht als Ansammlung von Defiziten zu betrachten, sondern an vorhandenen Ressourcen der betroffenen jungen Menschen anzuknüpfen – um so ihre Entwicklung, ihr Selbstwertgefühl und damit auch ihre Selbstständigkeit zu stärken.
FASD im Kölner Urania-Theater
„Ich bin Marc“ – die Solo-Theaterperformance des von FASD-betroffenen Marc Delius wird am Dienstag, 10. September, um 18 Uhr im Urania-Theater, Platenstraße 32, 50825 Köln aufgeführt. Tickets für neun Euro gibt es hier >>
Marc Delius hat unter der künstlerischen Leitung der Choreografin Kama Frankl-Groß und des Videografen Christopher Deutsch vom Jugen Schauspiel Bochum die Performance rund um seine eigenen Geschichten, Gedanken und Probleme entwickelt. Bislang wurde sie nur in Bochum aufgeführt.