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VerwahrlosungKölns vernachlässigte Kinder

Lesezeit 6 Minuten

Unzureichende Kleidung, vor allem im Winter, und schlechte Ernährung – Verwahrlosung betrifft auch unsere Kinder.

Köln – Das Thema ist erschreckend alt und beschämend aktuell: 21 Prozent aller Kinder in Deutschland leben in Armut. Weitere zehn Prozent befinden sich an der Grenze zur Armut. Als arm gelten in Deutschland Haushalte mit weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens. Dass das Problem zunimmt, und damit auch das Phänomen der Verwahrlosung und Vernachlässigung bestätigt auch Stephan Waltz, Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums in der Kinderklinik Amsterdamer Straße.

Herr Waltz, woran merken Sie, dass Kinder vernachlässigt sind?

Sobald Kinder zu uns in die Klinik kommen, werden sie gründlich körperlich untersucht. Dabei sieht man auch Hinweise auf eine körperliche Vernachlässigung, ob sie unterernährt oder schlecht gepflegt, nicht gewaschen sind, ob sie kariöse Zähne haben oder unangemessen angezogen sind. Säuglinge sind häufig wund oder bei Kleinkindern die Fingernägel nicht geschnitten. Dabei geht es natürlich nicht um Kinder, die staubig vom Fußballplatz kommen oder die am Morgen mal nicht gewaschen wurden, sondern um Hinweise auf eine chronische Unterversorgung. Auch bestimmte Erkrankungen oder Verletzungen, wie Verbrühungen oder die Einnahme von giftigen Substanzen – müssen nicht – können aber auf Vernachlässigung hinweisen.

Arm zu sein bedeutet oft auch abgehängt, ausgegrenzt und einsam zu sein.

Warum kommen die Kinder überhaupt in die Amsterdamer Straße?

Konkrete Anlässe sind akuten Erkrankungen, Infektionen, Magen-Darm-Infekte, Asthma, Lungenentzündung, aber auch chronische Erkrankungen wie Diabetes, Rheuma, Epilepsie. Im sozialpädiatrischen Zentrum richten wir unser Augenmerk besonders auf den Aspekt der Entwicklung. Dort werden Kinder mit Verdacht auf Entwicklungsstörungen behandelt. Das sind Beeinträchtigungen, die dem Kinderarzt aufgefallen sind, der die kleinen Patienten und ihre Eltern dann zu uns schickt. Wir fragen nach: Wie lebt die Familie, unter welchen Bedingungen wächst das Kind heran?

Können Sie das Phänomen Vernachlässigung innerhalb von Köln vorrangig bestimmten Gegenden oder Schichten zuordnen?

Das ist jetzt keine Überraschung: Vernachlässigung von Kindern kommt in armen Kreisen häufiger vor. Da gibt es einen klaren Zusammenhang. Das Problem gibt es natürlich auch in Rodenkirchen oder in akademischen Familien, aber in den Gegenden, in denen viele Menschen mit existenziellen Problemen leben, deutlich häufiger. Alle Entwicklungsstörungen, geistig, emotional oder motorisch, sind assoziiert mit Armut, kommen in sozial schwachen Familien häufiger vor als in wohlhabenden Familien.

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Kinderamut nimmt auch in unserer Region zu

Wie wirkt sich das aus, woran machen Sie das fest?

Wichtig ist die Interaktion zwischen Eltern und Kindern: Werden die Kinder liebevoll gefüttert und gewickelt, oder wird den Größeren beim An- und Ausziehen geholfen. Wird mit den Kindern gespielt oder werden sie nur abgeliefert, kurz saubergemacht und dann wieder abgelegt. Vernachlässigte Kinder nehmen nicht so gut Kontakt auf, erwarten in alltäglichen Belangen weniger von Erwachsenen. Schon kleine Kinder haben gelernt, sich um sich selbst zu kümmern, und das in einem Maße, das uns oft erschreckt.

Und wie deutet man emotionale Vernachlässigungen?

Emotional vernachlässigte Kinder zeigen häufig Verhaltensauffälligkeiten, wirken distanziert, zurückgezogen oder auch distanzlos. Soziale Vernachlässigung kann darin bestehen, dass Kinder nicht gelernt haben, Gefahrensituationen altersentsprechend zu erkennen oder ungestörten Zugang zu gefährlichen Substanzen – Medikamente, Putzmittel, Steckdosen, Treppen oder offene Fenster – haben. Auch Ernährung ist ein Thema. Kinder aus armen Familien sind häufig schlechter ernährt. Was übrigens nicht immer nur heißt, dass sie zu dünn, sondern, dass sie im Gegenteil, auch oft zu dick sind.

Wenn Sie vernachlässigte oder verwahrloste Kinder untersuchen, was tun Sie anschließend?

Wenn uns etwas auffällt, reden wir mit den Eltern und fragen nach den Lebensumständen. Dabei kann man feststellen, ob man es zum Beispiel mit Familien mit schweren existenziellen Sorgen oder mit überlasteten, berufstätigen Alleinerziehenden zu tun hat, mit kranken oder suchtkranken Eltern. Vernachlässigung entsteht oft aus Überforderungssituationen. Viele Flüchtlinge leben in katastrophalen Verhältnissen. Nach oder schon bei der Sozialanamnese beziehen wir den Sozialdienst mit ein – unter der Fragestellung: Wie können wir die Familien unterstützen? Das Jugendamt bietet Hilfen an, darüber klären wir die Familien auf, stellen gemeinsam mit ihnen Kontakte her und versuchen so, die Verhältnisse zu verbessern. In ausgeprägten Fällen arbeiten wir eng mit dem Jugendamt zusammen. Oft müssen ganz grundlegende Dinge wie eine gesunde Ernährung erklärt werden. Bei konkreten Entwicklungsstörungen leiten wir die Familien in Therapien oder Frühförderungen weiter.

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Verwahrloste Kinder sind häufig auch in schlechter gesundheitlicher Verfassung

Sie erleben es hautnah: Hat Ihrer Einschätzung nach das Problem „Vernachlässigung“ zugenommen?

Die Kinderarmut in Deutschland hat deutlich zugenommen – damit einhergehend auch gesundheitliche Probleme. So sehen wir mehr Kinder aus sozial schwachen Schichten im Kinderkrankenhaus, bei denen Vernachlässigung, Verwahrlosung und andere soziale Probleme eine große Rolle spielen. Gleichzeitig hat die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft, was Kindesmisshandlung – und Vernachlässigung ist ja eine Form davon – betrifft, zugenommen.

Ist das am Ende vielleicht sogar ein positives Zeichen, da Vernachlässigung mehr als früher auffällt – und dadurch auch früher gegengesteuert werden kann?

Es ist auf alle Fälle gut, wenn Probleme früh auffallen, die sowohl die seelische als auch die körperliche Gesundheit und die Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen. Nur so ist es möglich, Familien rechtzeitig zu unterstützen und Kinder zu fördern, bevor sie Schaden an Leib oder Seele erleiden. In der Früherkennung von Vernachlässigung spielen wir Kinderärzte, das öffentliche Gesundheitswesen, die frühen Hilfen, aber auch Kindergärten, Schulen und das private Umfeld eine sehr große Rolle. Das Ziel sollte letztendlich Primärprävention sein, also alles zu tun, um zu verhindern, dass Vernachlässigung und Verwahrlosung entstehen. Das ist eine große Aufgabe für unsere gesamte Gesellschaft, die nur in der Gemeinschaft mit Unterstützung der Politik gelöst werden kann.

Kleine Menschen brauchen Schutz – Anspruch und Wirklichkeit der Kinderrechte

Weil Kinder besonderen Schutz und Förderung brauchen, gelten für sie eigene Kinderrechte, die in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben sind. Fast alle Staaten haben sie in Kraft gesetzt – bis auf Somalia und die USA. Deutschland hat die Kinderrechtskonvention vor 25 Jahren als bindend anerkannt, ist im Prinzip also dazu verpflichtet, Sorge zu tragen, dass sie hierzulande eingehalten wird.

Zu den zehn Grundrechten der Kinder zählen auch: Der „Schutz vor Vernachlässigung, Verwahrlosung, Gewalt, Misshandlung“ (Art.19); das Recht auf Gesundheit und -vorsorge (Art. 24); sowie das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Art.27).

Einer wichtigen Verpflichtung der Konvention ist Deutschland bis heute nicht nachgekommen: Die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern – um sie auch einklagen zu können.

Zwar gilt seit Anfang 2012 das neue Kinderschutzgesetz, das besser vor Gewalt, Verwahrlosung und sexuellem Missbrauch schützen soll. Dennoch steigt in Deutschland die Zahl derer, die arm und chancenlos aufwachsen.

In einer Unicef-Studie von 2012 wurde das Wohlbefinden und die tatsächliche Lebenssituation von Kindern in 21 Ländern Europas und Nordamerikas verglichen. Was die materielle Armut der Kinder betrifft, schnitt Deutschland mit Platz 14 denkbar schlecht ab.

Dass arme Kinder von einem erhöhten Gesundheitsrisiko betroffen sind, sie überdurchschnittlich oft übergewichtig und fettsüchtig sind und auch häufiger unter Kopf- und Magenschmerzen leiden, zeigt zudem eine Datensammlung des Deutschen Kinderhilfswerks. Auch die Ernährung ist bei Kindern und Jugendlichen aus armen Elternhäusern häufig mangelhaft.

Unicef geht davon aus, dass in Deutschland pro Woche zwei Kinder an den Folgen von Vernachlässigung, Verwahrlosung und Misshandlungen sterben.

Von einer grundsätzlichen Chancengleichheit aller Kinder kann in Deutschland also keine Rede sein, denn es hängt nachweislich vom sozialen Status der Eltern ab, ob ihre Kinder auch gesund ernährt werden, genügend Bewegung haben, Bildung erfahren und auch anderweitig umfassend gefördert werden.

Sämtliche Studien zeigen: Besonders schwierig ist die Situation für Kinder Alleinerziehender und aus Zuwandererfamilien. Sie wachsen deutlich häufiger in Armut auf. In der Tatsache, dass der anhaltende konjunkturelle Aufschwung nicht zu einer Abnahme der Kinderarmut führt, sehen Expertinnen und Experten einen Beweis dafür, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt.