Dax-Vorstandsmitglieder über Gleichberechtigung„Deutschland hinkt hinterher“
- Sarena Lin, Sucheta Govil und Stephanie Coßmann sind Mitglieder der Vorstände der im (M)Dax-notierten Unternehmen Bayer, Covestro und Lanxess.
- Im Interview sprechen sie über ihre unterschiedlichen Haltungen zur Frauenquote und diskutieren, wieso Deutschland im internationalen Vergleich hinterherhinkt.
- Außerdem beschreiben sie ihre persönlichen Erfahrungen – zum Beispiel mit dem Hochstaplersyndrom.
Köln – Frau Coßmann, wie stehen Sie zur gesetzlichen Frauenquote? Stephanie Coßmann: Ich war aufgrund meines eigenen Werdegangs lange überzeugt davon, dass Qualifikation und Gestaltungswille genügen, um in der Gesellschaft und im Berufsleben voranzukommen. Bei der Übernahme des Personalbereichs bei Lanxess vor mehr als vier Jahren habe ich dann aber einen viel tieferen Einblick ins Thema bekommen – und gemerkt, dass ich selbst in einer Blase gelebt habe. Untersuchungen zeigen, dass wir ohne Quote mehr als 100 Jahre bräuchten, um genauso viele Frauen wie Männer in Vorstandsetagen zu sehen.
Diese Erfahrungen haben mich zu einer bekennenden Quotenbefürworterin gemacht. Übrigens sehe ich auch als Arbeitsdirektorin Handlungsbedarf: Wir werden in den kommenden zehn Jahren wegen Demographie- und Fluktuationseffekten 50 Prozent unserer Belegschaft ersetzen müssen. Der heutige Bewerbermarkt ist dem nicht gewachsen.
Frau Govil, Frau Lin, was sagen Sie?
Sucheta Govil: Ich sehe die Quote nicht als geeignetes Mittel, um den tiefgreifenden kulturellen Wandel herbeizuführen, den wir in unserer Gesellschaft mit Blick auf Vielfalt, Chancengerechtigkeit und Inklusion brauchen. Sie packt das Problem nicht an der Wurzel. Aber ich habe im Laufe der Jahre erlebt, dass wir beim Thema Geschlechtergerechtigkeit definitiv einen zusätzlichen Anstoß benötigen können, um die Dynamik zu gewinnen, die wir wirklich brauchen. Und das kann die Quote leisten – auch wenn ich dem Konzept grundsätzlich skeptisch gegenüberstehe.
Sarena Lin: Dem stimme ich zu. Zuallererst: Keine Frau möchte eine Quotenfrau sein. Das wertet unsere Leistung ab. Trotzdem denke ich, dass die Quote ein starkes Ziel ist. Sie ist ein Mittel zum Zweck. In den USA sagen wir: „What gets measured gets done“ (Anm. d. Red.: Was gemessen wird, wird gemacht). Man könnte argumentieren, dass Quoten und Zielgrößen Raum für Dialog schaffen. Außerdem üben sie Druck auf Unternehmen aus, die sonst keine eigenen Schritte einleiten würden. Die Quote allein reicht aber nicht. Unternehmen müssen verstehen, wieso sie Diversität eigentlich fördern. Sie müssen ihre Haltung verinnerlichen.
Wieso hinken wir beim Thema Geschlechtergerechtigkeit im Beruf so sehr hinterher?
Lin: Die Gründe dafür sind komplex. Ein Problem sind die gesellschaftlichen Normen und die damit verbundenen Erwartungen an Männer und Frauen. Ein weiterer Aspekt sind die erheblichen strukturellen Probleme, die auf diesen Normen aufbauen, zum Beispiel in der Talentförderung oder Nachfolgeplanung. Das ist natürlich niemandes Absicht – aber das System stützt einfach keine transparenten und fairen Verfahren.
Problem Nummer drei: die unterschiedliche Unterstützung, die Männer und Frauen im Beruf erfahren, gerade auch informeller Art. Nehmen wir zum Beispiel den Kollegen, der einen anderen für einen Posten empfiehlt. Das ist oft alles, was es braucht, um eine Beförderung zu bekommen. Vergessen Sie die formalen Prozesse. Und bei Frauen… nun, je kleiner das Netzwerk, desto kleiner auch die Möglichkeit, einander zu unterstützen.
Zu den Personen
Sarena Lin, geboren 1971 in Taipeh, ist seit Februar 2021 Vorstandsmitglied und verantwortlich für Personal und Strategie beim Agrar- und Pharmakonzern Bayer.
Sucheta Govil, geboren 1963 als britische Staatsangehörige in Indien, ist seit August 2019 Vorständin für Vertrieb und Marketing bei Chemiekonzern Covestro.
Stephanie Coßmann, geboren 1973 in Hannover, ist seit Januar 2020 Mitglied des Vorstands und Arbeitsdirektorin beim Spezialchemiekonzern Lanxess.
Wie können wir diese Probleme angehen?
Coßmann: Ich für meinen Teil bin sehr dankbar, dass wir die Frauenquote haben. Eigentlich bin ich als Industrievertreterin ein großer Fan von Eigenregulierung, glaube aber nicht, dass das hier genügt. Wir müssen an vielen Stellen aktiv werden. Es braucht zum Beispiel mehr Betreuungsplätze für Kinder und eine Änderung der Besteuerung von Ehegatten. Solange das steuerliche System begünstigt, dass ein Partner in Teilzeit arbeitet, kommen wir nicht voran. Wir als Wirtschaft müssen aber auch einen Rahmen mit entsprechender Kultur und den nötigen Angeboten schaffen.
Govil: Ich weiß, dass hierzu sowohl bei Lanxess als auch bei Bayer hervorragende Programme existieren. Und wir bei Covestro haben ebenfalls ehrgeizige Ambitionen, so streben wir unter anderem an, bereits bis 2029 einen weltweiten Frauenanteil in der Gesamtbelegschaft von 40 Prozent zu erreichen. Aber dieses Thema können wir nicht nur auf individueller Unternehmensebene angehen. Wir stehen hier nicht in Konkurrenz zueinander. Wir müssen uns zusammentun, nicht nur als Unternehmen, sondern auch als Gesellschaft, sonst werden wir keinen Fortschritt sehen.
Frau Govil, Frau Lin, Sie haben lange im Ausland gearbeitet. Wie steht Deutschland bei der Gleichberechtigung im internationalen Vergleich da?
Govil: Was die Vielfalt in der Belegschaft angeht, hinkt Deutschland etwas hinterher, das belegen auch die Zahlen. Ich denke, eine Hauptursache dafür ist das Erbe des Landes: Deutschlands Stärke ist, dass das Land auf Industrie gebaut ist, auf Technik und Chemie. Diese Bereiche haben in der Vergangenheit wenige Frauen angezogen. Wir müssen uns darum kümmern, junge Mädchen in die Branche zu holen. Wir brauchen sie.
Von dem, was ich mitbekomme, sind für viele Frauen außerdem soziale Normen ein Problem – nicht nur unternehmensseitig, sondern auch in ihrem privaten Umfeld. Wenn junge Mütter ihre Kinder in die Tagespflege geben, um wieder arbeiten zu können, werden sie dafür verurteilt. Es ist sehr schwierig, gesellschaftliche Normen und Vorurteile aufzubrechen.
Lin: Wenn wir über Frauen in Führungspositionen sprechen, müssen wir uns bewusst machen, dass das kein reines Unternehmens- sondern ein Gesellschaftsthema ist. Und dass sich jede Gesellschaft in ihrem eigenen Tempo bewegt. Um an das anzuknüpfen, was Sucheta gesagt hat: Ich war sehr überrascht, dass die Frage, ob eine Mutter wieder in den Beruf einsteigt, hierzulande häufig davon abhängt, ob sie einen Kita-Platz bekommt. In den USA ist das kein Problem, ich habe meine Tochter in die Ganztagesbetreuung geschickt, als sie drei Monate alt war. In Asien gibt es dagegen sehr viel familiäre Unterstützung.
Die Betreuungsfrage hindert eine Frau dort nicht an ihrem Karriereweg – anders als hier in Deutschland, wo das ein echtes Problem zu sein scheint. Da, wo wir in Deutschland heute stehen, waren wir in den USA schon vor zwanzig Jahren. Die Diskussion ist dort schon viel weiter. Aber jedes Land hat nun einmal sein eigenes Tempo. Und wir müssen es dort treffen, wo es sich gerade befindet.
Coßmann: Wussten Sie, dass es den Begriff Rabenmutter nur in Deutschland gibt? Es gibt viele Nationen, in denen es viel selbstverständlicher ist, dass auch Frauen in Vollzeit arbeiten. Aber die Konzepte und Herangehensweisen unterscheiden sich nun einmal von Land zu Land.
Wir müssen als Vorbilder wirklich unsere Stimme erheben. Frauen, die sich für unseren Weg entscheiden, müssen sichtbar sein. Genauso müssen aber auch Männer ihren Anteil leisten.
Live-Talk zum Weltfrauentag
Am Weltfrauentag, 8. März, 15.30 bis 16.30 Uhr, sprechen die drei weiblichen Führungskräfte und Vorstandsmitglieder in einem Live Talk über geschlechterspezifische Vorurteile in der Wissenschaft und Wirtschaft. Das Gespräch wird über die Linkedin-Kanäle von Bayer, Covestro und Lanxess gestreamt. (elb)
Sitzen Sie gerne hier und diskutieren als Vorbild die Frauenförderung – oder wäre es Ihnen lieber, über etwas anderes sprechen zu können?
Coßmann: Natürlich würde ich mir wünschen, dass wir über andere Themen sprechen könnten, weil Gleichberechtigung eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Aber ich äußere mich gern dazu, weil es mittlerweile eine Herzensangelegenheit ist: selbst Verantwortung zu übernehmen, Veränderung voranzutreiben. Aus einer persönlichen Motivation, aber wie eingangs erwähnt auch aus knallharter wirtschaftlicher Notwendigkeit heraus.
Beim Kölner Motorenbauer Deutz mussten kürzlich im Streit über die Implementierung der Frauenquote Vorstand und Aufsichtsratsvorsitzender ihre Posten räumen. Ist das symptomatisch für das deutsche Hinterherhinken?
Lin: Es wäre nicht richtig, die Personalangelegenheiten eines anderen Unternehmens zu kommentieren. Wir kennen die internen Hintergründe nicht. Aber ich denke, dass jedes Unternehmen eine Nachricht wie diese zum Anlass nehmen sollte, das eigene Vorgehen zu reflektieren: Was tun wir selbst, um Chancengleichheit für alle Arten von Minderheiten zu erreichen? Was tun wir, um unseren Werten gerecht zu werden?
Govil: Das sehe ich absolut genauso. Wir können uns darum bemühen, die Strukturen und Prozesse im eigenen Unternehmen zu analysieren und zu verbessern und so Fortschritte zu erreichen. Anstatt über andere zu sprechen, sollten wir vielmehr miteinander in den Austausch gehen.
Coßmann: Ich möchte die konkreten Vorgänge nicht kommentieren. Aber wenn ich mir die Industrie in ihrer Gesamtheit anschaue, glaube ich, dass wir bislang zu wenig Bereitschaft sehen, Veränderung anzugehen. Ein Beispiel dafür ist ja auch das virale Foto der Münchener Sicherheitskonferenz, wo nur weiße, mittelalte Männer beim CEO Lunch zusammensaßen. Es gab weder People of Color, noch Jüngere, noch Frauen. Ich glaube, das ist leider symptomatisch. Deshalb brauchen wir einen Kultur- und Sinneswandel.
Was waren Ihre persönlichen Erfahrungen als Frauen auf dem Weg in Ihre heutige Position? Sind Sie selbst auf Hürden des Systems gestoßen?
Coßmann: Es gibt immer Herausforderungen, egal, welchem Geschlecht man angehört. Und natürlich habe ich in meiner Karriere auch schwierige Situationen erlebt. Als ich noch in einer Kanzlei gearbeitet habe und Frauen in Mutterschutz gingen, hieß es immer: Ja schauen wir mal, ob du wiederkommst. Das sind schon Momente, in denen man sich fragt: Was passiert hier gerade? Ich selbst habe zwei Kinder und bin früh wieder voll arbeiten gegangen. Dafür muss man ganz schön diszipliniert sein. Aber das ist ja auch nur eine Phase im Leben. Ich habe noch fast 20 Jahre Berufsleben vor mir und meine große Tochter ist in drei Jahren aus dem Haus.
Govil: Ich stamme aus einem Land, das mich geprägt hat, und aus einer Familie, die dafür gesorgt hat, dass ich immer nach vorne geschaut, immer die Zusammenarbeit und das Vertrauen in andere gesucht und mich immer von einem größeren Ziel, einem Leitstern, habe leiten lassen. Für mich waren mein persönliches Netzwerk und meine Familie immer der größte Anker, um meine Rolle und meinen Beitrag zum Unternehmen zu entwickeln. Es ist wichtig, dass andere an dich glauben und dich unterstützen. Abgesehen davon glaube ich, dass das Selbstwertgefühl und die Fähigkeit, den eigenen Wert zu artikulieren, ebenso wichtig sind, wobei man sich seiner selbst bewusst und bescheiden bleiben sollte.
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Lin: Ich glaube, wir alle haben unsere Narben. Ich bin in einem sehr traditionellen taiwanesischen Umfeld aufgewachsen, wo du den Älteren Respekt zollst und nicht sprechen sollst, bis du gefragt wirst. Und an Frauen gab es da natürlich auch bestimmte Erwartungen: Sei brav und tu, was man dir sagt. Für mich war es wichtig, in meinem Berufsleben zu verstehen, welche Faktoren mich in meiner persönlichen Entwicklung hemmen. In meinem Fall hieß das zu lernen, andere zu unterbrechen und eine Stimme zu haben. Das ist etwas, bei dem mir niemand helfen kann.
Sie sagen, dass Sie am Hochstaplersyndrom litten…
Lin: Ja, denn es ist ja irgendwie auch beängstigend, da draußen zu sein, oder? Man sagt Dinge und fragt sich, ob die Leute einem das abkaufen. Ob es das ist, von dem sie glauben, dass man es sagen sollte. Diese Stimme im Kopf – man muss lernen, sie abzustellen. Das ist eine Fähigkeit, die wir Frauen meiner Meinung nach stärker ausbauen sollten. Ich selbst hatte übrigens viel Glück. Ich hatte tolle Mentoren, die meisten von ihnen übrigens Männer. Das wichtigste ist, nicht zu versuchen, Männer zu imitieren, sondern seine eigene Stimme zu finden.
Der Weltfrauentag fällt dieses Jahr in eine Zeit, in der in der Ukraine ein furchtbarer Krieg herrscht. Frau Coßmann, Sie haben intern diskutiert, wie das zusammengeht.
Coßmann: Wir haben uns gefragt: Ist der Weltfrauentag derzeit überhaupt wichtig? Und ich finde: ja. Denn wenn wir auf politischer Ebene anders unterwegs wären, wäre die derzeitige Situation auch eine andere. In einer diverseren Welt würden wir das, was wir in der Welt gerade von Autokraten erleben, so nicht sehen.
Lin: Der Ansicht bin ich auch. Es gibt zeitlose Werte, die wir weiter hochhalten müssen. In einer Gesellschaft, in der die Idee der Inklusion und Vielfalt nicht angenommen wird, steigt die Gefahr für Diktaturen, die versuchen, Andersdenkende zu unterdrücken. Für mich ist das eine wichtige Zeit, um die Stimme zu heben. Und den Weltfrauentag dafür zu nutzen, ist wahrscheinlich wichtiger denn je.
Govil: Meiner Meinung nach sind es Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt, die für einen gesunden Austausch und das notwendige Korrektiv sorgen, um unterschiedliche Perspektiven in einen Lösungsansatz einzubeziehen. Das gilt übrigens nicht nur für das Geschlecht, sondern auch für Alter, Herkunft, Religion und so weiter. Noch wichtiger sind Inklusion und Chancengleichheit.