Aufbruchstimmung in Stolberg„Die Flut ist unsere große Chance“
Stolberg – Über diesen Titel kannst Du Dich nur freuen, wenn Du begriffen hast: Diese Chance kommt so schnell nicht wieder. In der Villa Lynen von Stolberg hat die Stadtspitze das Urteil der Jury - per Livestream aus Den Haag zugeschaltet - am Morgen des 28. März mit Applaus und Erleichterung entgegengenommen.
Stolberg steht auf der Liste der sieben meistgefährdeten Kulturerbe-Stätten Europas des Jahres 2022. Diesen Titel würde sich wohl keine Stadt freiwillig auf ihre Ortseingangsschilder schreiben.
Zu verdanken hat ist das drei Privatleuten, die es als Zugereiste ins Dreiländereck verschlagen hat: Karl Schmeer, Wolter Braamhorst und Anthony Reiss. Ein Schwabe, ein Niederländer und ein Engländer haben dafür gesorgt, dass die Hoffnung nach der Katastrophe in die Stadt mit ihren 60.000 Einwohnern zurückkehrt, weil der Wiederaufbau der Altstadt und der historischen Neustadt nach der Flutkatastrophe unverhofft internationale Unterstützung erfährt.
Hinter den Rettern steckt die weithin unbekannte Initiative „Europa Nostra“, die als das größte Netzwerk für das Kulturerbe in Europa gilt. Sie wird den Wiederaufbau mit Expertisen von Fachleuten wie Städteplanern, Architekten und Finanzexperten kostenlos begleiten. „Und das über Jahre, wenn wir dazu bereit sind und die Experten bei uns auf keinen Widerstand stoßen“, sagt Karl Schmeer.
Wir treffen ihn in der schmalen Fußgängerzone, durch die am Abend des 14. Juli 2021 der ansonsten so beschauliche Vichbach mit einer drei Meter hohen Flutwelle stürzte und verheerende Schäden hinterließ. Mehr als ein Drittel der 752 denkmalgeschützten Gebäude, die 500 Jahre Baugeschichte repräsentieren, hat es erwischt. Darunter das alte Rathaus, alle Häuser entlang des Steinwegs und alle Kupferhöfe.
„Die meisten davon schlimm“, sagt Schmeer. Mit seinen Nachbarn hat der Naturwissenschaftler, der im etwas höher gelegenen spätmittelalterlichen Teil der Stadt lebt, der von der Flut weniger betroffen war, das Chaos verfolgt. Die schiere Wucht und das Ausmaß der Zerstörungen „haben uns schon nach ein paar Tagen dazu gebracht, nach Möglichkeiten zu suchen, Stolberg etwas mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen“.
Schmeer hat es vor zehn Jahren aus beruflichen Gründen in die Stadt vor den Toren Aachens verschlagen. Wie viele „der Zugereisten“ hat er immer schon damit gehadert, dass „eine Stadt, die bis in die 1980er Jahre sehr schön, lebendig und vielversprechend war, so hoffnungslos heruntergewirtschaftet wurde.“
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Zu einem Zeitpunkt, als die meisten Stolberger noch mit Aufräumarbeiten beschäftigt waren, haben Schmeer und seine Mitstreiter nach vorn gedacht und sind dabei auf „Europa Nostra“ gestoßen. „Wir haben uns gesagt, die Flut ist unsere große Chance. Die Chance, mit einem weißen Blatt Papier zu beginnen“, sagt Schmeer.
„Verständlicherweise“ seien sie anfangs auf wenig Interesse gestoßen. „Die Bewerbung war an 100 Unterstützer-Schreiben geknüpft, die auch noch auf Englisch geschrieben sein mussten. Verlangen sie das mal von Menschen, die gerade alles verloren haben und mit Aufräumen beschäftigt sind, Unterstützung für eine Organisation zu leisten, deren Namen sie noch nie gehört haben“, sagt Schmeer.
Beharrliches Klinkenputzen
Das sei nur durch beharrliches Klinkenputzen gelungen. Privatleute, Geschäftsleute, Kirchen und Gewerkschaften hätten sich engagiert. Am Ende sei es auch gelungen, die Stadt und den Bürgermeister mit ins Boot zu holen. Das Rathaus sei „nach einer Seitenwelle im aufgewühlten Kielwasser der Bewerbung doch noch aufgetaucht“, sagt Schmeer. Bei einigen Mitgliedern der Initiative „gab und gibt es bis heute auch Misstrauen gegenüber der Stadtverwaltung, aber wir wollen natürlich nicht auf Konfrontationskurs gehen“.
Bürgermeister Patrick Haas (SPD), seit Herbst 2019 im Amt, hat recht schnell erkannt, welche Möglichkeiten "Europa Nostra" bietet. „Damit eröffnen sich große Chancen, um europäische Expertise und Fördermöglichkeiten zur Unterstützung unseres Wiederaufbaus zu gewinnen.“
Fördergelder einsammeln
Für die Initiatoren der Bewerbung ist es besonders wertvoll, dass auch ein Berater des Instituts der Europäischen Investmentbank im Stolberg-Stab sitzen wird, der im Sommer die Arbeit aufnehmen wird. „Das wird uns sehr helfen, wenn es um das Einsammeln europäischer Fördergelder geht“, sagt Schmeer. „Im Dschungel zwischen europäischen und deutschen Verordnungen geht jede kleine Stadtverwaltung zwangsläufig unter.“ Wichtig sei auch, „dass jemand von außen auf die Stadt guckt. Es gab immer wieder mal gut gemeinte Einzelmaßnahmen, mehr aber nicht. Was fehlt, ist eine Gesamtschau auf Stolberg und seine Zukunft.“
So sieht das auch Maria Matousek (61), die seit zwölf Jahren ehrenamtlich für das Stadtmarketing arbeitet. „Den Stolbergern fällt doch gar nicht mehr auf, dass in der Fußgängerzone so viele Geschäfte leer stehen, weil das schon seit 20 Jahren so ist. Die Flut ist eine Chance. Jedes Ladenlokal, das jetzt wieder aufmacht, wird neu erstrahlen.“
Der Steinweg mit seinen historischen Fassaden sei trotz vieler Bausünden immer noch attraktiv, findet auch Schmeer. Große Hoffnungen setzen die verbliebenen Einzelhändler in der Altstadt auf das Projekt der „Fabrik City“, das vom Stadtrat Anfang März nach mehr als zwei Jahren beschlossen wurde und sich von einem klassischen Outlet auf der grünen Wiese oder wie in Bad Münstereifel unterscheiden wird. Es steht unter dem Motto: alles außer Kleidung.
Die Stolberger Idee: Die Innenstadt soll klassischen Fabrikverkäufen von Unternehmen von Bahlsen bis WMF auf einem zentral geführten Marktplatz eine neue Heimat bieten. „Wir nutzen die historische Altstadt als Kulisse und binden das ganze Stadtgebiet ein“, sagt Bürgermeister Haas. Zwei Unternehmen aus der Konsumgüterindustrie bieten schon seit längerem Werkverkäufe an. Das sei eine solide Grundlage.
Fabrik-Outlet beschlossen
Erleichtert wird das „Fabrik City“-Projekt durch eine neue Verordnung des Landes NRW, die der Stadt bei Immobilien in der City, die zum Verkauf stehen, ein Vorkaufsrecht einräumt, ohne dass dabei Gelder aus der Wiederaufbauhilfe verlorengehen. So könne man die Wiederbelebung der Innenstadt durch geringere Mieten für Ladenlokale fördern und „deutlich mehr Belebung in die historische Bausubstanz bringen“, sagt Stadtsprecher Tobias Schneider.
„Wir müssen die Flutkatastrophe nutzen“, sagt Buchhändlerin Bettina Krüpe (56), die mit ihrem Laden seit 37 Jahren dem Niedergang trotzt und jetzt in ein größeres Ladenlokal zieht. „Alles, was jetzt kommt, wird größer und schöner“, glaubt sie. Der klassische Einzelhandel habe sich „mehr und mehr“ überlebt. Mit der „Fabrik City“ und „Europa Nostra“ gebe es gute Bedingungen für einen Neubeginn nach 30 Jahren Niedergang.
"Die alten Stolberger wissen diese Dinge gar nicht zu schätzen, die waren in ihrem Trott nach dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und haben in den 80er Jahren den Anschluss verpasst." Natalie Stercken (50), Altstadt-Bewohnerin und ebenfalls Zugereiste, sieht in der Flut eine Wendepunkt. „Für den gemeinen Stolberger war es Usus zu sagen, die Stadt ist nicht schön. In diesem Bewusstsein ist hier eine ganze Generation groß geworden. Erst die Zugezogenen haben den Wert erkannt und den Willen, etwas zu ändern. Sie haben ein anderen Blick auf die Stadt. Wenn sich das vermischt mit denen, die hier geboren sind und mit ihrem Herzen hier wohnen, dann haben wir eine gute Basis."
Karl Schmeer kann dem nur beipflichten und zeigt auf eine der klassischen Hausfassaden, denen er gerne neues Leben einhauchen möchte. „Schauen Sie sich das mal an“, sagt er. „Das sieht doch aus wie in Paris. Ich nenne das immer das Lafayette von Stolberg.“