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Veranstaltungstechniker an Kölner TheaterMarc Decker ist 40, könnte in Rente – und hat sich dagegen entschieden

Lesezeit 5 Minuten
Im Vordergrund liegt eine Orange auf einem Tisch, im Hintergrund ist unscharf ein Mann in schwarzem Shirt zu sehen.

Der Veranstaltungstechniker an einem Kölner Theater möchte nicht erkannt werden. Er hätte schon in Rente gehen können.

Ein Veranstaltungstechniker aus Köln lebte den Traum von Frugalisten – viel sparen, früh in Rente gehen – und entschied sich doch dagegen.

Marc Decker ist 40 und müsste nicht mehr arbeiten. Er hat früh im Leben viel Geld erwirtschaftet, um finanziell unabhängig zu sein. Ohne sich so nennen zu wollen, lebte Decker zehn Jahre als Frugalist. Bewusster Verzicht und ein früher Ausstieg aus der Arbeitswelt sind Ziele dieses Konzepts. Aber als Decker die Möglichkeit hatte, in Rente zu gehen, entschied er sich doch dagegen.

Marc Decker wuchs bei sparsamen Urgroßeltern auf

Der Mann in schwarzer Jeans und schwarzem Shirt ohne Logo sitzt im Hof eines Kölner Theaters. Er möchte nicht mit echtem Namen öffentlich auftreten, nennen wir ihn Marc Decker. Seine Geschichte erzählt er aber. Die fing 1983 im Umland von Köln an. Als ein Kind, das nicht viel hatte, wuchs er bei seinen Urgroßeltern auf. „Beide haben den Weltkrieg miterlebt, viel davon erzählt und immer sparsam gelebt“, sagt er. Sparsam leben müssen, weil es nicht anders geht – Decker sagt: „Das Pech möchte ich niemals haben.“

Als Erwachsener machte er das Abitur auf der Abendschule, studierte dann Physik und Biologie. „Mit Zahlen konnte ich immer gut.“ Decker ist sehr direkt im Gespräch, erzählt ohne Umschweife von seinem Leben. Ein Schlaganfall in der Kindheit habe sein emotionales Zentrum im Gehirn beeinflusst. „Ich bin ein sehr rationaler Mensch.“ Als Student lebte er exzessiv, ging jeden Abend aus, spielte in einer Band, trank viel Alkohol. Dann änderte er sein Leben radikal.

Ich habe nicht gespart, sondern angefangen zu investieren
Der Veranstaltungstechniker aus Köln hätte mit 36 in Rente gehen können.

Ab 2005 lebte er sparsam und konzentrierte sich auf beruflichen Erfolg. Und wurde so, eher unabsichtlich, zum Frugalisten. Er machte an einem Theater in Köln eine Ausbildung zum Veranstaltungstechniker. Mit Meisterbrief, Schein zum Pyrotechniker und sämtlichen Zusatzzertifikaten, die es gibt. „Ich verstehe nicht, wie man keinen beruflichen Ehrgeiz haben kann“, sagt er. 2009 machte er sich selbstständig.

Erste Eigentumswohnung für 25.000 Euro gekauft

Und kaufte zwei Jahre später seine erste Eigentumswohnung. „Es war auch Glück dabei“, sagt Decker. Als seine damalige Vermieterin seine Wohnung verkaufen wollte, bekam er sie für 25.000 Euro. Aber bei reinem Glück blieb es nicht, „ich kann ja auch gut mit Zahlen.“ Er gab nur das aus, was er brauchte. Und Decker brauchte nicht viel. „Eine kleine Küche, ein Bett, einen Rechner und Toast“, zählt er auf – und lacht, er habe schon auch anderes gegessen. Aber ausgegangen ist er seit dem Studium tatsächlich nicht mehr. „Ich habe nicht gespart, sondern angefangen zu investieren“, sagt er.

Er kaufte die nächste Wohnung, vermietete sie weiter, kaufte eine neue. Und irgendwann sogar Häuser. „Das hat besser geklappt, als ich am Anfang dachte“, sagt er rückblickend. Er investierte auch in Firmen, blieb aber als Stiller Gesellschafter stets im Schatten. Wie viel Vermögen er hat, verrät Marc Decker nicht, nur: „2019 hätte ich in Rente gehen können.“

Frugalismus: Bewusster Verzicht und geschicktes Anlegen für eine frühe Rente

Der Traum eines Frugalisten. Bewusster Verzicht, um möglichst früh aus der Arbeitswelt aussteigen zu können, ist das Ziel des Frugalismus. Frugalisten sparen den Großteil ihres Einkommens und legen es möglichst geschickt an. Sie drehen den klassischen Lebensentwurf um. In maximal 20 Jahren wollen Frugalisten so viel ansparen, dass sie dann Jahrzehnte lang ohne Arbeit leben können.

Die Bewegung kommt aus den USA und heißt auch FIRE, was für „Financial Independance, Retire Early“ (finanzielle Unabhängigkeit, früher Ruhestand) steht. Kritiker des Konzepts bemängeln, dass sich nur Besserverdienende Frugalismus leisten können. Wer an der Armutsgrenze lebt, könne nicht sparsamer sein, nichts zurücklegen.

Auch in Deutschland legen Anhänger in Foren ihre Finanzen offen und tauschen sich über weiteres Einsparpotenzial und gute Investitionen aus. Das bekannteste Forum in Deutschland ist aus dem Blog von Oliver Noelting entstanden. Der Frugalist veröffentlicht auf seiner Internetseite seinen „Masterplan für die finanzielle Unabhängigkeit“. Der Softwareentwickler ist 34 und sparte in den vergangenen Jahren nach eigenen Angaben 70 Prozent seines Nettogehalts, lebte also von 800 Euro im Monat. Sein Ziel: mit 40 in Rente gehen.

2019 wäre eine Frührente möglich gewesen

Das hat Decker im Alter von 36 sogar übertroffen. Genaue Pläne für die Zeit danach schmiedete er nie, „ich hätte mich schon beschäftigt.“ Das Wort Frugalismus kannte er damals noch nicht, will sich in keine Schublade stecken lassen. Angetrieben haben ihn die Erfahrungen aus der Kindheit: „Mein Fokus war, mir später keine Sorgen machen zu müssen.“

2019 hatte er das Ziel erreicht. Da hätte er den Ruhestand genießen können. „Ich wollte zocken, meine Ruhe haben und ein bisschen reisen“, sagt Decker. Wäre da nicht die Diagnose gewesen, die sein Leben erneut auf den Kopf stellte.

Er saß beim Arzt. Die Beschwerden der Krankheit spürte Decker schon sein Leben lang. Erst 2016 wurde sie in vollem Umfang erkannt. Ein Gendefekt. Er reduziert seine Lebenserwartung auf ein Alter von 60 Jahren. Wenn überhaupt. „Du hast noch zehn gute Jahre“, habe der Arzt ihm gesagt. Er hatte für das Gespräch einen Psychologen hinzugezogen.

Nicht zu arbeiten, war für Marc Decker die Hölle

Doch Decker blieb ruhig. Er ist ja rational. „Ich versuchte, so wenig wie möglich über meine Krankheit nachzudenken“, sagt er. Bis Corona kam.

Auch als Selbstständiger war er dem Kölner Theater immer treu geblieben, als es während des Lockdowns schloss, blieb auch er zwei Jahre zu Hause. Und merkte, wie es ist, nicht zu arbeiten: „Das war die Hölle.“ Er machte erneut eine Kehrtwende seines Lebensentwurfs, kaufte mit seiner Frau ein Haus, in das sie auch einzogen, kaufte sich Autos, an denen er mit seiner Familie in einer Hobbywerkstatt schraubt. Den Rest seiner Zeit verbringt er mit ehrenamtlicher Hilfe. Investitionen tätigt er nur noch „für den guten Zweck“.

„Ich sehe keinen Sinn mehr, etwas anzusparen“, sagt der Veranstaltungstechniker heute. Seit Anfang des Jahres ist er im Theater wieder für einige Stunden angestellt. „Ich will so lange noch hier hängen, wie ich kann.“ Decker macht es sich auf einer Sitzbank im Theater-Hof bequem, „das gibt mir Lebensmut.“

Fragt man Decker, ob er es bereut, die zehn Jahre vor seiner Diagnose so viel gearbeitet zu haben, antwortet er klar mit „Nein“. Gerade, wenn man krank werde, brauche man das Geld. „Ich halte es für einfacher, seine Energie früh zu nutzen und später frei zu sein.“