Der „Verband der Redenschreiber deutscher Sprache“ untersucht die Auftritte von Dax-Managern. Es gibt einen Dauersieger und spannende Newcomer.
Rhetorik-PreisNeue Lockerheit bei Dax-Managern
Alle Macht geht vom Volk aus – so lautet der wichtigste Grundsatz demokratischer Ordnung im Staat. Analog gilt in der Welt der Aktiengesellschaften: Alle Gewalt geht von den Anteilseignern aus. Man nennt es Aktionärsdemokratie. Und ihre gelebte Praxis ist – in Deutschland – die Hauptversammlung, im Management-Sprech kurz HV genannt.
Was dort gesagt wird, ist also wichtig. Sollte man meinen. In der Praxis aber zeigt sich: Für wichtige Investoren gibt es eigene Informationskanäle. Ihre Entscheidungen hängen nicht an der HV-Rede der Vorstandsvorsitzenden. Die richtet sich stattdessen längst auch an Journalisten, Influencer, Politiker und sogenannte Normalverbraucher, die die Produkte am Ende kaufen sollen. Ihnen allen gilt es, Gegenwart und Zukunft des Unternehmens in möglichst leuchtenden, vor allem aber glaubwürdigen Farben zu vermitteln. Dadurch haben die Reden der CEOs an Bedeutung gewonnen, auch wenn ihr institutionelles Gewicht eher abgenommen hat.
Dieser Eindruck zumindest drängt sich auf, wenn man die rhetorischen Leistungen bei den Dax-Hauptversammlungen unter die Lupe nimmt. Seit 2014 hat sich der „Verband der Redenschreiber deutscher Sprache“ (VRdS) dies zur Aufgabe gemacht. Auch in diesem Jahr haben 32 Mitglieder des Verbands anhand von mehr als 20 Kriterien ehrenamtlich untersucht: Wessen Rede hat durch gelungene Rhetorik überzeugt? Und wer hat den besten Auftritt hingelegt?
Die erste Frage nimmt Argumentation, Sprache und Stil unter die Lupe. Beim Auftritt hingegen geht es um das, was nicht aus Buchstaben gemacht wird: Gestik, Mimik, Stimmführung, Inszenierung. Zusätzlich haben die Rede-Profis für ihre Analysen eine dritte Kategorie etabliert, die jedes Jahr wechselt. Nach „Storytelling“ war es diesmal „Ethos“ – ein Begriff aus der klassischen Rhetorik, bei dem es darum geht, welche Überzeugungskraft die Glaubwürdigkeit des Redners als Person hat. In jeder der drei beurteilten Kategorien können die Dax-CEOs den „VRdS-Preis für Wirtschaftsrhetorik“ gewinnen.
Tiefsitzendes Misstrauen gegen jede Art von Rhetorik
Trotz vieler Fortschritte sind HV-Reden immer noch nicht das, was sie sein könnten: echte Jahreshöhepunkte für das Unternehmen, seine Belegschaft und die Öffentlichkeit. Viele Führungskräfte in Deutschland glauben offenbar, wer es beim Reden professionell auf Wirkung anlege, der wolle den Menschen etwas vorgaukeln – eine Befürchtung, hinter der nicht selten ein in Deutschland spätestens seit 1945 tiefsitzendes Misstrauen gegen jede Art von Rhetorik steckt. Bis hin zum Bundeskanzler resultiert daraus eine rhetorische Zurückhaltung, die der Sache allerdings nur selten dienlich ist.
Mit dem Preis für Wirtschaftsrhetorik will der VRdS deshalb auch unterstreichen, dass Anschaulichkeit und Aufrichtigkeit, Professionalität und Persönlichkeit, Überzeugungskraft und Glaubhaftigkeit keine Widersprüche sein müssen. Das Verbandsfazit der HV-Saison 2024: Insgesamt geht es weiter bergauf mit der rhetorischen Kompetenz des Führungspersonals. An die Stelle zahlenlastiger und schwer verständlicher Ausführungen treten lebendige Reden, untermalt mit anschaulichen Präsentationen. Dass ein Redner gar, wie in diesem Jahr Daimler-Truck-Chef Martin Daum, seine Rede aus dem Fahrerhaus eines Lkw hält, wäre vor einem Jahrzehnt undenkbar gewesen und zeigt, wie experimentierfreudig CEOs und Kommunikationsverantwortliche mittlerweile geworden sind.
Telekom-Chef Tim Höttges als dreimaliger Nummer-Eins-Redner „außer Konkurrenz“
Zugleich gilt: Auch die Kräfte der Beharrung sind beachtlich. Nicht nur ein traditionell öffentlichkeitsscheues Unternehmen wie Rheinmetall, sondern auch die Deutsche Bank macht aus der Rede des CEO eher ein Staatsgeheimnis als eine Imagechance. Videoaufnahmen der Reden findet die Öffentlichkeit auf den Webseiten nicht. Ganz besonders schade: Die bislang einzige weibliche Dax-Chefin, Merck-CEO Belén Garijo, spricht auf Englisch. Und die deutsche Übersetzung ihrer Rede erreicht auf der sprachlichen Verständlichkeitsskala einen Wert wie sonst nur Promotionsschriften.
Umso erfreulicher ist die Entwicklung an der Spitze, wo Telekom-Chef Tim Höttges regelmäßig die besten Ergebnisse erzielt. Weil er aber als dreimaliger Nummer-Eins-Redner inzwischen „außer Konkurrenz“ im Rennen war, geht der Preis für die beste Rhetorik an Roland Busch, den Chef von Siemens. Er baut konsequent eine Stärke aus, für die er und sein Redenschreiberteam schon im vergangenen Jahr ausgezeichnet wurden: das Storytelling. Dabei geht es nicht um lustige Anekdoten, sondern um klug ausgewählte und vor allem anschauliche Geschichten aus der täglichen Lebenswirklichkeit der Unternehmen.
CEO von BASF Martin Brudermüller legt besten Auftritt hin
„Innovationskraft“ etwa ist zunächst einmal nur ein Begriff. Zeigt ein Firmen-Chef aber am konkreten Beispiel, wie Künstliche Intelligenz einen Produktionsroboter programmiert, dann gewinnt seine Rede damit an Glaubwürdigkeit. Noch besser funktioniert das, wenn ein Top-Manager wie Busch eine solche Geschichte gemeinsam mit einem Mitarbeiter erzählt. Damit demonstriert er zugleich: Wir setzen auf Augenhöhe. Bei uns kommt es eher auf Teamgeist an als auf tradierte Hierarchien.
Den besten HV-Auftritt legte in diesem Jahr der scheidende CEO von BASF, Martin Brudermüller, hin. Aus jedem seiner Sätze spricht: Er meint, was er sagt – er sagt, was er meint. Gestik, Mimik, Tonalität und Stimmführung sind extrem engagiert, wirken dabei aber weder aufgeregt noch gekünstelt. Außerdem bewies Brudermüller Sinn für Humor und zeigte zu Beginn seiner Rede eine Audiokassette, um das Thema Innovation in den Mittelpunkt zu rücken.
E.ON-Chef Leonhard Birnbaum in der Kategorie Ethos ausgezeichnet
In der Kategorie Ethos zeichnet der Verband E.ON-Chef Leonhard Birnbaum aus, der sich in einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Chefs von Daimler Truck und Siemens Healthineers durchsetzte. Birnbaums Vortrag wirkt, als ob ihm seine Worte erst beim Reden einfielen, was eine hohe Überzeugungskraft schafft. Die Zuhörer gewinnen den Eindruck, dass sie es mit jemandem zu tun haben, der vor ihren Augen und Ohren persönlich um die beste Lösung für die Energiewende ringt.
Weitere solide Auftritte mit Potenzial lieferten zwar auch die Chefs von Mercedes, BMW, Porsche und der Deutschen Börse. Die lebendigsten Impulse aber kamen von zwei Nicht-Muttersprachlern: von Adidas-Chef Björn Gulden aus Norwegen, der im Vorjahr den Preis für den besten Auftritt erhielt sowie von Beiersdorf-CEO Vincent Warnery aus Frankreich. Beide hielten mitreißende, sympathische Reden, die eine neue Lockerheit in die deutsche Hauptversammlungsszene bringen. Sie setzten damit nicht nur inhaltlich, sondern auch emotional klare Akzente – ganz ohne Angst vor Pathos.
Peter Sprong
Der Autor ist Präsident des Verbands der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS). Der Kölner arbeitet selbst seit fast 30 Jahren als Redenschreiber und Ghostwriter.