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Streik im öffentlichen Dienst„Es leiden nicht die Reichen. Es leiden Eltern, Kinder, Arme“

Lesezeit 5 Minuten
Blick in den Raum einer Kindertagesstätte mit hochgestellten Stühlen. Die Kindertagesstätten in Nordrhein-Westfalen stehen vor personellen Engpässen - und Fachkräfte geraten immer wieder in Grenzsituationen. Experten warnen: Darunter leidet die Aufsichtspflicht.

Wenn das Personal streikt, bleibt die Kita geschlossen. Leidtragende sind die Eltern und Kinder.

Der Nahverkehr steht still, Kitas bleiben geschlossen: Adäquates Mittel im Arbeitskampf oder Quälerei für diejenigen, die sowieso wenig Privilegien haben? Ein Streit zum Streik.

Pro: Streiks sind notwendig, und mit Blick auf andere Länder verhältnismäßig

Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass es überaus ärgerlich ist, wenn an einem kalten Wintertag in Köln weder Busse noch Bahnen fahren. Der Weg zur Arbeit wird zum Hindernisparcours. Und wer es dann wie wahrscheinlich Viele nicht pünktlich zur Arbeit schafft, der hat auch noch einen verärgerten Chef. Die Wut und Verärgerung jener Eltern, deren Kinder wegen des Streiks nicht in die Kita dürfen, ist ebenso nachvollziehbar. Aber ist der Streik im Öffentlichen Dienst daher unverhältnismäßig?

Dieser Streik ist es bislang definitiv nicht. Im Gegenteil. Sinn des Streiks ist es ja nicht nur, der Arbeitgeberseite einen möglichen finanziellen Schaden zu bereiten. Sinn des Streiks ist es vor allem auch, den Menschen auch außerhalb der Tarifparteien vor Augen zu halten: Wenn wir unseren Job nicht machen dann läuft es in diesem Land nicht mehr rund! Denn die unmittelbar Betroffenen – Eltern, Kinder, Passagiere – und die mittelbar betroffenen, wie eben der Chef mit den verspäteten Angestellten, werden latent Druck auf die Öffentliche Hand ausüben, der Lohnforderung der Arbeitnehmer nachzukommen. Das ist die Idee des Streiks.

Thorsten Breitkopf

Thorsten Breitkopf

Chef der Wirtschaftsredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Der Rheinländer hat die Position 2019 übernommen. Breitkopf kommt von der „Rheinischen Post“ in Düsseldorf, wo er als Wirtschaftsredakteur ar...

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„Alle Räder stehen still, wenn ein starker Arm es will“ – lautet ein bekanntes Arbeiterlied aus dem 19. Jahrhundert. Und mit Blick auf den aktuellen Streik ist da auch heute grundsätzlich noch was dran.

Man kann auch auf der liberalen Seite des wirtschaftspolitischen Spektrums stehen, und einen Streik trotz aller volkswirtschaftlichen Kurzfristschäden befürworten. Ordnungspolitisch gehört der Arbeitskampf der Tarifparteien genauso zu unserer Sozialen Marktwirtschaft wie Wettbewerb, freie Preisbildung, Vertragsfreiheit oder eben auch Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie. Der Streik schmerzt.

Tarifstreit - das ist nichts anderes als kaufmännisches Feilschen

Die Forderungen scheinen Ihnen überzogen? Das möchte ich nicht beurteilen, aber man darf nicht vergessen, dass ein Tarifstreit auch ein kaufmännisches Feilschen ist. Wer einen guten Gebrauchtwagen verkaufen will, geht auch mit einem höheren Preis ins Rennen. So funktionieren Verhandlungen. Schließlich ist eine Tarifeinigung nichts anderes als ein Preis, der durch Angebot und Nachfrage auf einem freien Markt zustande kommt. Und angesichts von Fachkräftemangel und schwindender Bereitschaft als Busfahrer oder bei der Müllabfuhr zu arbeiten ist das Angebot eben aktuell in einer stärkeren Position als die Nachfrage, die Arbeitgeberseite.

Aber nochmal zurück zur Verhältnismäßigkeit. Dazu sei ein Blick zu unseren französischen Nachbarn erlaubt. Wenn dort gestreikt wird, dann stehen in der Tat „alle Räder still“. Davon ist der aktuelle Tarifkonflikt im Öffentlichen Dienst noch Lichtjahre entfernt. Der aktuelle Streik ist ein Arbeitskampf der Nadelstiche. Nicht ein ganzes Land wird bestreikt, sondern mal die eine Region, mal die andere. Mal sind es die Öffentlichen Verkehrsbetriebe, mal Kitas oder Beschäftigte am Flughafen, und das meist nur einzelne Tage. Niemals aber steht in unserem Land wirklich alles durch einen Streik still.

Unsere geordnete, besonnene und ja, auch gewaltfreie Art der tariflichen Auseinandersetzung sollten wir uns erhalten und dabei nicht vergessen, dass uns die Freiheit zu streiken von vielen Staaten der Welt radikal zum Guten unterscheidet.

Thorsten Breitkopf ist Leiter des Wirtschaftsressorts und studierter Ökonom. Er sagt: „Die Folgen des Streiks müssen ausgehalten werden. Der Arbeitskampf der Tarifparteien ist elementarer Bestandteil unserer Sozialen Marktwirtschaft.“


Contra: Für Menschen am Limit ist ein Arbeitskampf eine Katastrophe

Haben Sie schon einmal versucht, zu zweit unter einer herkömmlichen Bettdecke zu schlafen? Das ist knapp, geht aber, solange sich keiner bewegt oder zieht. Sobald sich einer im Schlaf zur Seite wälzt, liegt aber der andere mit nackten Füßen da. Aus „Das reicht gerade so“ wird bei ungeplanten Einschnitten ein „Das reicht hinten und vorne nicht mehr“.

So ist das nicht nur im Bett, sondern auch im Leben vieler derjenigen, die mit Privilegien nicht gerade überschüttet sind. Eltern zum Beispiel. Alleinerziehende im Besonderen. Menschen mit wenig Einkommen. Wer schon einmal versucht hat, Kinder zu einer Betreuung zu bringen, sie rechtzeitig wieder abzuholen und dazwischen eine Acht-Stunden-Schicht zu absolvieren, der weiß: Das klappt gerade so. Wer die Betreuung einer nahestehenden Person übernimmt und zusätzlich eine 40-Stunden-Woche Erwerbstätigkeit zur Finanzierung seines Lebens schultern muss und gleichzeitig auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist, der ist am Ende des Tages gehetzt, hat bei pünktlichen Fahrplänen abends aber vielleicht sowohl den Chef erfreut, als auch die demente Mutter gefüttert.

Claudia Lehnen

Claudia Lehnen

Claudia Lehnen, geboren 1978, ist Chefreporterin Story/NRW. Nach der Geburt ihres ersten Kindes begann sie 2005 als Feste Freie beim Kölner Stadt-Anzeiger. Später war sie Online-Redakteurin und leitet...

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Unvorhergesehene Einschnitte sind im Leben derer, die alles auf Kante nähen müssen, weil unsere Gesellschaft sie ungeachtet der Leistung, die sie erbringen, viel zu wenig in den Blick nimmt, aber nicht abfederbar. Ein Streik im öffentlichen Dienst reicht, um alle Nähte reißen zu lassen. Die Kita zu, der Nahverkehr lahmgelegt. Für Menschen am Limit ist ein Arbeitskampf eine Katastrophe.

Natürlich ist den Mitarbeitern in den öffentlichen Einrichtungen des Bundes und der Kommunen mehr Lohn zu gönnen. Sie leisten eine wichtige Arbeit und sollen dementsprechend bezahlt werden. Der Streik trifft aber in diesem Fall die Falschen. Er wird auf dem Rücken derer ausgetragen, die ohnehin benachteiligt sind. Und gerade das kann eine Gewerkschaft keinesfalls wollen.

Unter diesem Streik leiden nicht die Reichen. Es leiden Eltern, Kinder, Arme

Wenn die Mitarbeiter bei Ford streiken, dann leidet der Konzern. Er muss Umsatzeinbußen hinnehmen. Und reagiert vielleicht zur Güte mit mehr Geld für die Beschäftigten. Wenn aber Kita-Personal oder Busfahrende streiken, dann leiden nicht „die Reichen“ gegen die die Gewerkschaft wettert. Dann leiden Eltern, dann leiden Menschen, die sich kein Auto leisten können und beim besten Willen keinen Luxus wie eine Taxifahrt, dann leiden Kinder, denen in dieser Zeit Bildung und der Sportverein am Ende der Stadt verwehrt werden.

Wer durch einen Streik Gerechtigkeit herstellen will, der tut nicht gut daran, nur für die eigene Gerechtigkeit zu kämpfen. Der Gerechtigkeit immanent ist ja gerade, dass sie immer für alle gelten muss, sonst wäre sie ja nicht gerecht.

Das Streikrecht ist in der Verfassung verankert. Dennoch spricht nichts dagegen, in Bereichen, in denen vor allem die ohnehin wenig Privilegierten unter dem Arbeitskampf leiden, ein verbindliches Schlichtungsverfahren einem Streik zwingend vorzuschalten. Auch ein Notdienst für diejenigen, die schon unter normalen Umständen gerade so ihren Alltag stemmen können, wäre ein Kompromiss, der am Ende zu einer gerechteren Gesellschaft führte. In der alle eine ausreichend große Decke haben. Und genau das muss ja das Ziel von Solidarität sein.

Claudia Lehnen ist Chefreporterin Story/NRW. Gegen Streik hat sie prinzipiell nichts einzuwenden. Wenn diejenigen in Geiselhaft genommen werden, die ohnehin am Ende ihrer Kräfte sind, macht sie das aber wütend. Vielleicht streikt sie dann auch.