Im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ warnt der Forscher vor der Delta-Variante des Coronavirus.
Der 55-Jährige erklärt, wie der Durchbruch beim Corona-Impfstoff gelingen konnte.
Seine Frau Özlem Türeci und er werden sich ins Goldene Buch der Stadt eintragen – und die Ehrendoktorwürde der Uni erhalten.
Herr Şahin, Sie sind in der Türkei geboren, haben aber ab dem vierten Lebensjahr in Köln gelebt, sind hier zur Schule gegangen, haben hier studiert. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Stadt?
Uğur Şahin: Ich bin in Köln-Niehl aufgewachsen und hatte eine sehr schöne Kindheit. Es war eine Zeit, in der wir als Kinder immer draußen sein konnten – nach der Schule, den Ranzen nach Hause gebracht und dann raus. Wir haben viel Fußball gespielt. Wir haben uns auf den Rheinwiesen getroffen und Mannschaftsspiele gemacht: manchmal drei gegen drei, manchmal zehn gegen zehn. Es war unbeschwert, die Schule hat in den ersten Jahren nicht so eine große Rolle gespielt – später natürlich schon. Sowohl die Schule als auch die Universität.
Einer unserer Mitarbeiter hat mit Ihnen Abitur gemacht und erinnert sich nicht nur an ihre wahnsinnigen Mathematikfertigkeiten, sondern auch Ihr fußballerisches Können. Aber aus dem Talent haben Sie wohl nichts gemacht.
Von Köln aus sind Sie dann ins Saarland gezogen, wo Sie Ihre Frau Özlem Türeci kennengelernt haben. Hat sie denn eigentlich den Weg bereitet, aus dem begnadeten Forscher auch einen betriebswirtschaftlich denkenden Mann zu machen?
Nein. (lacht) Wir sind beide Forscher und haben beide das Ziel, Patienten zu helfen. Wir hatten betriebswirtschaftlich keinerlei Erfahrung, als wir unsere Firmen gegründet haben. Wir haben uns da geholfen, zum Beispiel mit „GmbH für Dummies“ und anderen Büchern, und haben uns das Stück für Stück beigebracht. Zum Glück hatten wir auch von Anfang an Kollegen, die sich den betriebswirtschaftlichen Herausforderungen angenommen haben.
Die Herausforderungen sind jetzt geringer geworden, der Impfstoff von Biontech ist ein Verkaufsschlager. In der Zulassung und Distribution haben sie sich mit Pfizer aus den USA zusammengetan – warum konnte es nicht zum Beispiel Bayer oder ein anderes europäisches Pharmaunternehmen werden?
Wir haben hier nicht in Nationen gedacht, sondern nach der sichersten und besten Lösung gesucht. Es gibt grundsätzlich wenige Unternehmen, die weltweit große klinische Studien durchführen und Impfstoffe ausliefern können – insgesamt nur vier. Mit Pfizer hatten wir eine laufende Zusammenarbeit für die Entwicklung eines Grippe-Impfstoffs. Die Zusammenarbeit war sehr gut und vertrauensvoll und dementsprechend war es logisch, dass wir auch hier beim Covid-19-Impfstoff ebenfalls zusammenarbeiten könnten.
Sie konnten dank Ihrer langjährigen Erfahrung mit der mRNA-Technologie den Impfstoff sehr schnell entwickeln. Wie bedeutend war dieser Vorteil?
In der Tat war eines von zwei Zielen, so schnell wie möglich einen Impfstoff zu entwickeln. Das zweite Ziel war, unsere Produktion so hochzufahren, dass wir möglichst einen großen Teil der Menschheit mit unserem Impfstoff versorgen können. Zeit war hier einer der wesentlichen Faktoren weil wir im Rennen waren – nicht gegen andere Unternehmen, sondern gegen die Pandemie. Wir haben parallel 20 Impfstoffkandidaten getestet, sodass wir im Zeitraum von Ende Januar bis Ende Juli 2020 die entscheidenden Daten ausgewertet hatten und den besten Kandidaten auswählen konnten. Es hat sicherlich geholfen, dass wir dann nicht nur irgendeinen Impfstoffkandidaten hatten, sondern den besten aus 20 wählen könnten. Entsprechend haben die Daten dann auch bestätigt, dass der Impfstoff sehr gut funktioniert.
Ende vergangenen Jahres ist die Impfkampagne in Deutschland und weltweit angelaufen. Aber jetzt gibt es auch etwas verwirrende Signale, zum Beispiel aus Israel, wo die Inzidenz bei über 500 liegt. Sind die Impfstoffe vielleicht doch jetzt nicht mehr so wirksam, wie sie am Anfang zu sein schienen?
Nein, das würde ich so nicht sagen. Ich glaube, man muss zwei Fakten sehen. Auf der einen Seite sind auch in Israel sehr viele Menschen nicht geimpft. Und auf der anderen Seite ist es so, dass wir jetzt eine Virus-Variante haben, die deutlich höhere Infektionsraten mitbringt – die Delta-Variante. Ein Infizierter steckt sechs bis sieben Menschen an, die das Virus oder den Impfstoff nicht bekommen haben. Hinzu kommt, dass wir uns jetzt in Israel in einer Situation befinden, in der die ersten, die geimpft worden sind, langsam beginnen, ihre Antikörper abzubauen. Und entsprechend halten wir es für sinnvoll, dass diejenigen mit einem abbauenden Immunschutz noch eine dritte Impfung bekommen. Unsere Daten wie auch erste Daten aus Israel zeigen, dass nach der dritten Impfung der Schutz auch gegen die neue Variante wieder vollständig hergestellt wird.
In Deutschland sinken die Inzidenzen im Moment zwar leicht, dennoch blicken wir mit Sorge auf den Winter und die vierte Welle. Müssen wir uns auch langfristig auf diese Wellenbewegungen einstellen?
Das ist leider die neue Normalität. Wir haben eine Situation mit zwei Gruppen von Menschen: Geimpfte und Ungeimpfte. Die Ungeimpften sind für dieses Virus mehr oder weniger hundert Prozent anfällig, wenn sie vorher keine Infektion gehabt hatten. Die Infektionsrate des Virus ist leider sehr hoch. Selbst wenn wir 70 oder 80 Prozent Geimpfte hätten, könnten wir wegen der restlichen 20 Prozent von Ungeimpften in der Bevölkerung einen Anstieg der Inzidenzen ohne zusätzliche Schutzmaßnahmen nicht verhindern. Wir brauchen noch eine Kombination von Maßnahmen, um die Infektionen einzudämmen – besonders in geschlossenen Räumen. Im Herbst werden die Infektionszahlen weiter steigen. Aber vielleicht sage ich auch mal etwas Positives. Wir wissen, dass diejenigen, die geimpft sind, sich zwar infizieren können, aber die meisten sollten nach bisher vorliegenden Daten keinen schweren Krankheitsverlauf haben.
Es kommt aber zu diesen Impfdurchbrüchen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Die Delta-Variante hat mehrere Eigenschaften, die das bedingen. Vorläufige Studien deuten darauf hin, dass diese Virusvariante circa zehn bis tausend Mal mehr Viren produziert als die Ursprüngliche. Dadurch ergibt sich dann wahrscheinlich auch die höhere Infektionsrate. Diese Virusvariante ist dennoch auch für die Antikörper, die die bisherigen Impfstoffe induzieren, empfänglich. Antikörper sind wichtig, um eine Infektion zu verhindern. So haben wir keine Sorge, dass diejenigen, die zum Beispiel die zweite Impfung vor drei oder vier Monaten bekommen haben, eine deutlich erhöhte Infektionsrate haben. Aber in späteren Monaten fängt bei Geimpften die Infektionsrate an zu steigen. Wir haben noch eine zweite Immunabwehr in unserem Körper, die durch den Impfstoff angesprochen wird. Das sind die T-Zellen. T-Zellen bekämpfen die weitere Ausbreitung der Viren im Körper, selbst wenn die Infektion stattgefunden hat, das heißt, wenn das Virus bereits in die menschlichen Zellen eingedrungen ist. So kann jemand, der eine Infektion hat und vorher sein Immunsystem durch eine Impfung trainiert hat, schneller dieses Virus kontrollieren. Daher kommt es mit einer deutlich geringeren Wahrscheinlichkeit zu schweren Krankheitsverläufen.
Sie haben die mögliche dritte Impfung angesprochen. Der Virologe Christian Drosten hält wenig von Auffrischungen im großen Stil. In welchen Fällen halten Sie eine Auffrischungsimpfung für sinnvoll?
Es ist wichtig, dass wir immer wieder Daten generieren und beschreiben, was wir sehen und das ist genau das, was wir tun. Es ist sehr gut, dass es eine Debatte darüber gibt, wie man diese Daten interpretiert und weiter vorgeht, dass es Wissenschaftler gibt, die die eine oder die andere Position haben, dass diese Diskussion stattfindet. Das soll niemanden verunsichern. In den nächsten Wochen und Monaten wird sich zeigen, welche Strategie sich am erfolgreichsten darstellt.
Tut die Politik, aber auch die Gesellschaft insgesamt, genug dafür, die Impfquote zu erhöhen?
Wir dürfen als Gesellschaft nicht einfach resignieren und akzeptieren, dass wir diese noch nicht ausreichende Quote haben. Das Beste, was hilft, ist zu informieren. Dazu können die Medien beitragen und das tun sie auch. Das Überzeugen, Gespräche führen und vielleicht auch den Zugang zum Impfstoff nochmal zu vereinfachen, sodass Impfungen weiter erleichtert werden.
Wo stehen wir beim Impfstoff für die unter 12-jährigen?
Momentan laufen die Studien. Wir haben die Daten für die 12- bis 15-jährigen generiert, die Studien für die 5- bis 11-Jährigen sind noch unterwegs. Wir erwarten, dass wir Daten Ende September vorliegen haben könnten, die wir auch den Behörden in Europa und in den USA vorlegen werden. Wenn die Daten gut aussehen, wird es da drauf ankommen, wie schnell die Behörden reagieren können.
Das heißt, es könnte durchaus bis Ende des Jahres ein Impfstoff für die unter Zwölfjährigen verfügbar sein.
Wenn alle Daten gut aussehen und die Behörden das entsprechend so bestätigen und eine Genehmigung geben – ja, das halte ich für realistisch.
Lebenslauf mit einem Ziel
Uğur Şahin ist 1965 in der Türkei geboren worden und mit vier Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen. Er ist in Köln aufgewachsen, hat am heutigen Erich-Kästner-Gymnasium Abitur gemacht und schon früh den Traum gehabt, Menschen durch medizinische Forschung das Leben erleichtern zu können.
An der Kölner Universität hat er Medizin studiert und ist dann 1992 seinem Doktorvater ins Saarland gefolgt. Parallel hat er Mathematik im Fernstudium studiert. Im Saarland hat er seine Frau Özlem Türeci kennengelernt, die seine Begeisterung für die medizinische Forschung teilte. Sie haben eine Tochter.
Später wechselten beide an die Universität Mainz und gründeten zunächst die Firma Ganymed, die sie verkauften – und Biontech. Sie verfolgten die Version, indiviudalisierte Krebstherapien auf Basis der mRNA-Technologie zu entwickeln und konnten die gesammelten Erfahrungen übertragen auf die Impfstoff-Entwicklung.
Şahin hielt zum Zeitpunkt des Börsengangs Ende 2019 persönlich 18,3 Prozent der Anteile an Biontech.
Sie haben ja bei einem inzwischen legendären Frühstück mit ihrer Frau den Schwenk beschlossen, die mRNA-Impfstoffforschung für Covid wesentlich zu beschleunigen. Aber eigentlich ist ja Ihre große Vision der Kampf gegen den Krebs mit Hilfe dieser Technologie. Haben Sie durch den Impfstoff jetzt vor allen Dingen das Kapital, um diesen persönlichen Traum zu verwirklichen?
Ja, das ist in der Tat eine der wichtigsten Transformationen, die wir jetzt bei Biontech haben. Wir haben die Möglichkeit, jetzt deutlich breiter zu investieren und unsere Programme zur Krebsimmuntherapie zu beschleunigen. Wir haben zum Beispiel in den USA schon ein Unternehmen übernommen und wir haben in den letzten zwölf Monaten fünf neue klinische Studien gestartet, allesamt in der Onkologie. Wir möchten natürlich mRNA-Impfstoffe als Krebstherapie, aber auch weitere Formen von Krebsimmuntherapien wie zum Beispiel CAR-T-Zell-Therapien entwickeln. Und wir möchten diese neuen Behandlungsansätze beschleunigt in späte klinische Studien bringen, damit wir vielleicht in einigen Jahren unsere ersten zugelassenen Krebsmedikamente haben.
Wo sehen Sie da am ehesten Erfolgswahrscheinlichkeiten? Welcher Krebs ist der, der in Ihren Augen am ehesten auf die mRNA-Technologie anspricht?
Im Grunde haben wir die Möglichkeit Therapien für verschiedene Krebsformen zu entwickeln. Das Besondere an unseren Ansätzen ist, dass wir die Therapie an das Antigen-Profil des Tumors und des Patienten anpassen können. Dementsprechend ist unsere große Vision, eine individualisierte Krebsimmuntherapie zu entwickeln, die man idealerweise für jede Krebsform nutzen kann. Momentan in Phase-II-Studien sind Medikamente zur Behandlung von schwarzem Hautkrebs und für Kopf-Hals-Tumore und wir haben eine Studie gestartet, bei der wir im frühen Stadium des Dickdarm-Karzinoms nach der Operation und nach der Chemotherapie die Nutzung einer mRNA-Therapie im Vergleich zur Kontrollgruppe untersuchen.
Ihre Mitabiturienten erinnern sich daran, dass sie, wenn sie rauchend auf dem Schulhof standen, gesagt haben: „Ja, wir können ruhig rauchen. Denn der Uğur wird uns schon vor dem Krebs retten.“
(lacht) Ich glaube, Prävention ist immer besser als die Therapie.
Biontech ist jetzt ein etwa 70 Milliarden Euro teures Unternehmen. Dennoch ist die Attraktivität für globale Pharmakonzerne natürlich groß. Wird es Ihnen gelingen, Biontech als eigenständiges Unternehmen zu erhalten, oder glauben Sie, dass Übernahmeangebote kommen?
Es ist unser Ziel, ein globales, in Europa ansässiges Unternehmen aufzubauen. Die Hauptinvestoren und Gründer möchten ihre Vision weiterverfolgen. Wir haben jetzt die Möglichkeit, unsere Vision umzusetzen und auch selbst zu finanzieren. Wir sind sehr glücklich, dass wir jetzt so gut aufgestellt sind, dass wir nicht nur im Bereich der Infektionskrankheiten und Krebs Medikamentenentwicklung betreiben können, sondern vielleicht unsere Technologien auch für ganz andere Krankheiten nutzen können.
Herr Şahin, ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch.
Das Interview ist eine redaktionell leicht überarbeitete und gekürzte Fassung einer Aufzeichnung von „ekonomy mit K“, dem Wirtschafts-Podcast des Kölner Stadt-Anzeiger.