AboAbonnieren

Deutlich teurer, deutlich verzögertWie Großbritanniens neues Atomkraftwerk zum Problemmeiler wird

Lesezeit 4 Minuten
Ingenieurteams heben mit dem größten Kran der Welt - Big Carl - eine 245 Tonnen schwere Stahlkuppel auf das erste Reaktorgebäude von Hinkley Point C auf der Baustelle des Kernkraftwerks in Bridgwater, Somerset.

Ingenieurteams heben mit dem größten Kran der Welt - Big Carl - eine 245 Tonnen schwere Stahlkuppel auf das erste Reaktorgebäude von Hinkley Point C auf der Baustelle des Kernkraftwerks in Bridgwater, Somerset.

16 Milliarden Euro Mehrkosten: Die Kosten für das Kernkraftwerk Hinkley Point C explodieren.

Jack Bush, den Bauhelm auf dem Kopf und ein Lächeln im Gesicht, gibt sich zuversichtlich: „Ich bin wirklich stolz, an einem der größten Bauprojekte Europas beteiligt zu sein“, sagt der Mitarbeiter von Balfour Beatty. Das britische Bauunternehmen wirkt am Bau von Hinkley Point C im englischen Somerset mit. Es soll Tunnel unter dem Meeresboden bauen, die Reaktoren mit Kühlwasser versorgen, das anschließend in den Bristol­kanal geleitet wird. „Das ist ein sehr anspruchsvolles Projekt“, sagt Ingenieur Harris Allen.

Tatsächlich ist das englische Kernkraftwerk Hinkley Point C nicht für seine Größe, sondern vor allem für seine Schwierigkeiten bekannt. Der Zeitpunkt für die Fertigstellung wurde in den vergangenen Jahren immer weiter nach hinten verschoben. Auch die Kosten für das Projekt des französischen Energiekonzerns EDF steigen unaufhörlich. Lagen die Schätzungen zu Baubeginn 2016 noch bei umgerechnet rund 21 Milliarden Euro, so geht das Unternehmen heute auf Basis der damaligen Preise von mehr als 37 Milliarden Euro aus. Nach heutigem Geldwert wären es damit über 50 Milliarden Euro. Statt 2025 könnte der erste von zwei Reaktoren frühestens im Jahr 2031 ans Netz gehen.

Das Modell sorgt an vielen Orten für Probleme

Dabei bereiten Europäische Druckwasserreaktoren (EPR), wie sie derzeit in Somerset entstehen, auch jenseits der Insel Probleme. Ein Atomreaktor in Flamanville in der französischen Normandie sollte rund 3,3 Milliarden Euro kosten und bis 2012 fertiggestellt sein, wird jetzt jedoch wohl mindestens mit 19,1 Milliarden zu Buche schlagen, am Netz ist er bisher nicht. In Finnland musste ein EPR im vergangenen Jahr mehrfach wegen technischer Probleme angehalten werden.

Hinkley Point C aus der Luft

Hinkley Point C aus der Luft

Als Gründe für die Kostenexplosion nennt der Staatskonzern EDF Auflagen der britischen Aufsichtsbehörden. Hinzu kämen Faktoren wie der Brexit, die Folgen der Pandemie, der Fachkräftemangel und die hohe Inflations­rate im vergangenen Jahr. Rob Gross, Direktor des UK Energy Research Centre (UKERC), führt die Probleme auch auf die fehlende Erfahrung auf der Insel zurück. „Wir haben in Großbritannien schon sehr lange keinen Kernreaktor mehr gebaut, der letzte wurde 1994 fertiggestellt“, sagt er gegenüber dieser Zeitung.

Die Errichtung eines Atomkraftwerks sei überdies finanziell eine Herkulesaufgabe: Milliardeninvestitionen werden für den Bau fällig, während die Erträge aus der Stromproduktion erst Jahre später in die Kasse kommen. „Private Investoren lassen sich auf solch ein Risiko nicht ein“, so Gross. Anfang der 2010er‑Jahre gewann der konservative Premierminister David Cameron China als Geldgeber für das britische Nuklear­programm, schließlich schloss die britische Regierung das Staatsunternehmen China General Nuclear (CGN) wegen der sich verschlechternden politischen Beziehungen aus dem Projekt aus.

Die Verzögerungen haben Folgen für die britischen Emissionen

Dass der Bau von Hinkley Point C angesichts der Verzögerungen und steigenden Kosten nun gestoppt wird, hält Gross jedoch für höchst unwahrscheinlich. Schließlich soll das Kernkraftwerk mehrere Meiler ersetzen, die nach und nach abgeschaltet werden. Auf der Insel sind derzeit fünf Kraftwerke von EDF mit einer Gesamt­kapazität von rund 5,9 Gigawatt in Betrieb. Alle haben bald das Ende ihrer Laufzeit erreicht, sollen nun jedoch teilweise länger als geplant am Netz bleiben. Hinkley Point C hat eine Kapazität von 3,2 Gigawatt, produziert damit etwa dreimal so viel Strom wie seine Vorgänger und soll etwa 7 Prozent des britischen Bedarfs abdecken.

Vor diesem Hintergrund haben die Verzögerungen in Somerset Folgen. „Sie machen eine zwischenzeitliche Erhöhung der Gasverbrennung fast unvermeidlich“, sagt Gross. Dies werde zwangsläufig mehr Treibhausgase verursachen, warnen Experten. Die britische Regierung versicherte jedoch, dass die Klimaziele erreicht würden. „Wir haben den richtigen Energiemix, um unsere Netto-Null-Ziele zu erreichen. Wir investieren in erneuerbare Energien, bauen die fünf größten in Betrieb befindlichen Offshore-Windparks der Welt und unterstützen die Wiederbelebung der Kernenergie“, so ein Sprecher.

Regierung lässt sich von Kritikern nicht beirren

Laut Tom Greatrex, Vorstandsvorsitzender der Nuclear Industry Association, müsse die Atomkraft „auch in Großbritannien deutlich schneller ausgebaut werden“. Gross schlägt hingegen einen anderen Ton an. Es mache keinen Sinn, Reaktoren abzuschalten, die noch in Betrieb seien, denn es sei sehr schwierig, diese Lücke zumindest kurzfristig zu schließen. Aber: „Atomkraft kann nicht alles. Wir brauchen sie, ich erwarte jedoch nicht, dass sie die führende Rolle bei der Bereitstellung kohlenstoffarmer Energie spielen wird.“ Um den Klimawandel zu bekämpfen, müsse das Vereinigte Königreich auf die Erneuerbaren setzen, die schneller und günstiger zu haben seien.

Gegner eines weiteren geplanten Kernkraftwerkes in Großbritannien, Sizewell C an der englischen Ostküste, argumentieren seit Langem, dass neue Projekte zu teuer sind und ihr Bau zu lange dauert. Und jede Erhöhung der Kosten vonseiten der EDF scheint dieses Argument zu untermauern, so James Murray, Mitbegründer des Londoner Net Zero Festivals und Chefredakteur von BusinessGreen.

Die konservative britische Regierung lässt sich von diesen Bedenken jedoch nicht beirren. Sie plant nach eigenen Angaben den größten Ausbau der Kernenergie in Großbritannien seit 70 Jahren – trotz der Projektverzögerungen. Bis 2050 soll eine Flotte von Meilern gebaut werden, die 24 Gigawatt erzeugen können – genug, um ein Viertel des prognostizierten nationalen Strombedarfs zu decken.