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„Alles klingt gleich“Wie zwei Musiknerds für mutigeres Popradio kämpfen

Lesezeit 7 Minuten
Illustration: Radio vor abstraktem Hintergrund

„Wo ist hier der Krach?“ fragen die Musikjournalisten Melanie Gollin und Martin Hommel in ihrem gleichnamigen Projekt.

Musik im Mainstream-Radio soll vor allem eines: nicht stören. Das ist viel zu wenig, finden zwei Musikjournalisten und haben das Projekt „Wo ist hier der Krach?“ gestartet. Ihr Ziel: mehr Vielfalt und Mut bei der Musikauswahl.

Kein Mensch ist dermaßen von Glück durchflutet wie Popradiomoderatoren kurz vor dem Wochenende. Es muss ein geheimes Spaßelixier geben, das freitagnachmittags in Radio­redaktionen die Vorfreude ins Euphorische steigert. Von Garmisch bis Lübeck – Ekstase an allen Mikrofonen: Feierabend! Sonnenschein! Und jetzt vier Superhits am Stück!

Die Musik, die derlei offensive Fröhlichkeit zu begleiten pflegt, hat vor allem eine Funktion: Sie soll bis zur nächsten Werbeinsel nicht stören. Man hört das nicht gern in den Redak­tionen, aber noch immer geht es im formatierten Mainstreamradio – ob öffentlich-rechtlich oder privat – nicht primär darum, Einschaltgründe zu schaffen, sondern Ausschaltgründe zu eliminieren. Das Ziel ist ein langer, ruhiger Fluss aus Geräusch. Irritation ist böse. Oder wie die Senderchefin Mira Seidel von der SWR-Jugendwelle DASDING in einem Interview mit dem Mediendienst DWDL ohne Arg sagte: „Wir müssen gefälliger werden, die Spitzen und Kanten aus der Musik herausnehmen, eine höhere Durchhörbarkeit erreichen.“

„Wo ist hier der Krach?“

Bitte? Noch gefälliger? Noch mehr Einheitsbrei? Bei Melanie Gollin und Martin Hommel schwoll die Halsschlagader, als sie Seidels Sätze lasen. Beide sind Musikjournalisten, beide arbeiteten auch schon für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) und sind „Fans“ von ARD und ZDF. Beide jedoch haben die Nase voll vom „glatt gezogenen“ Programm der Popradiowellen. Wie kommt es, fragten sie sich, dass ARD und Deutschlandradio zwar 83 Radiosender betreiben, sie selbst als Popnerds und Musikenthusiasten aber in keinem einzigen davon eine musikalische Heimat finden? Sie machten ihren Zorn öffentlich – mit der Aktion „Wo ist hier der Krach?“.

Warum ist alles entweder total artig oder irre überdreht?
Melanie Gollin und Martin Hommel

Nun ist Kritik an der Uniformität des Formatradios nicht neu. Ungewöhnlich ist, dass sie aus dem Herzen des Betriebs kommt. Gollin und Hommel kritisieren nicht die privaten Radios, deren werbebasiertes Geschäftsmodell auf eine stabile, erregungsfreie Reichweite angewiesen ist, sondern primär die werbe- und quotenunabhängigen ÖRR‑Sender. „Warum klingen die Jugendwellen – von der Musik über die Moderationen bis zu den Jingles – komplett gleich?“, wundern sie sich. „Warum ist alles entweder total artig oder irre überdreht? Und warum zur Hölle baut niemand auf mehr Kante, mehr weirden Kram und mehr Nische?“ Kurz: Sie stört, dass das Radio klar unter seinen Möglichkeiten bleibt.

Man rede ja nicht von „Slayer um 9 Uhr morgens“, sagt Gollin, „sondern nur von etwas anderem als einem seichten Viervierteltakt“. Die meisten Künstler in den aktuellen Heavy Rotations der Sender kämen aus dem Ausland. „Natürlich wollen wir auch da wissen, was es Neues gibt, aber Lewis Capaldi und Pink sind nicht auf das ÖRR-Radio angewiesen.“ Künstler „unterhalb des Bekanntheitsgrades von LEAJasonDeruloNicoSantos“, die einem bestimmten Mainstream-Sound nicht entsprächen, würden kaum noch gespielt.

„Nicht anecken – sonst schalten die Leute um“

In vielen Häusern herrsche Resignation. Denn das vorherrschende Argument sei stets dasselbe: „Der Song darf nicht anecken, sonst schalten die Leute um.“ Dabei habe das Radio eine Mitverantwortung bei der Pflege einer lebendigen Musikkultur. Der stabile Strom von neuen britischen Bands oder die starke Austro-Pop-Welle lasse sich „fundamental darauf zurückführen, dass lokale Bands im Radio ihrer Heimat eine Bühne bekommen“, in Österreich etwa durch FM4.

Markforstern wir uns weiter so durchs Programm?
Melanie Gollin und Martin Hommel

Geht es besser? Anders? Gollin und Hommel haben ÖRR-Radiokollegen aus sechs Ländern interviewt: in Österreich (FM4), Großbritannien (BBC Radio 6), Frankreich (FIP), Dänemark (DR P6 Beat), Australien (Double J) und der Ukraine (Radio Promin). Ihr Fazit: Sie alle verfügen über ein klares Profil abseits des Mainstreams. Ihr Vorschlag: ein neuer, vielfältiger, viel bunterer Musiksender für ganz Deutschland. Zu teuer? Kein Argument. Denn während das Deutschlandradio über ein Jahresbudget von 276 Millionen Euro für drei Sender verfügt, komme BBC 6 Music mit 14 Millionen Euro pro Jahr aus. Man muss nur wollen. Die Frage sei: „Markforstern wir uns weiter so durchs Programm?“

Gewiss finden sich im ARD-Kosmos bereits musikalische Nischen. Doch der durchaus „fantastische“ (Gollin) Kanal BR Puls zum Beispiel sende nur digital, habe „ein enges Korsett“ und sei wie sein Geistesbruder Bremen Next regional ausgerichtet. Deutschlandfunk Nova sei kein reiner Musiksender, NDR Blue ebenfalls nur digital bei DAB+ zu finden und kaum beworben – und Radio eins in der Anmutung schlicht „alt“: „Man könnte es als das ‚Rolling Stone‘-Magazin des ÖRR bezeichnen. Neue Musik hat es hier schwer, wenn sie nicht wie alte klingt.“ Jüngst erst hat der NDR die Musiksendungen „Nachtclub“ und „Nightlounge“ vom terrestrischen Sender NDR Info zum Digitalsender NDR Blue verschoben.

Es geht um mehr Mut im Mainstreamradio

Natürlich gebe es durchaus einzelne Fenster für neue Musik – „doch wenn es um die Rotation im Tagesprogramm (6–18 Uhr) geht, die Zeit, in der die meisten Menschen Radio hören, wird die Auswahl dünn“. Beide wünschen sich mehr Mut und Vielfalt, mehr Indie, Punk, Jazz, Funk, Techno, Metal, Hip-Hop, R ‘n‘ B und deren Subgenres bei jungen Mainstreamsendern wie 1 Live, Das Ding, Fritz, Sputnik oder N‑Joy. „Es gibt zig ÖR‑Sender, die sich auf Klassik spezialisiert haben – warum werden Klassikhörer als wichtiger eingestuft als solche von alternativer Popmusik?“ Die großen Labels, so darf man vermuten, pushen auch hierzulande lieber globale Hits, statt junge Künstler offensiv zu fördern.

Warum hören wir immer dieselben drei Hits von U2? Warum nicht mal etwas Überraschendes?
Peter Urban, NDR‑Moderatorenlegende

Das klassische Popradio ist durch das Streaming mächtig unter Druck geraten. „Bei Spotify sagt mir niemand, ob die Sonne scheint“, sagt Das-Ding-Chefin Seidel. Es soll wie ein Argument pro Radio klingen – in Wahrheit ist es exakt das Erfolgsgeheimnis von Spotify. Mit der Durchdringungstiefe der aktuellen Moderationsteams (Wochenende! Wetter! Werbung!) wird man Musikfreunde kaum erreichen – sie hören Musik lieber ganz ohne die überzuckerte Moderationsdauerparty.

Sorgen um das Medium Radio und die kleineren deutschen Musicacts machten sich jüngst nicht nur Gollin und Hommel, sondern auch der Deutsche Kulturrat und der Bundesverband Musikindustrie. Dessen Vorsitzender Florian Drücke kritisierte, dass im abgelaufenen Jahr unter den Top 100 der Airplay-Charts, also den 100 meistgespielten Titeln im deutschen Radio, kein einziger deutscher Song war.

Auch ein Veteran der Zunft vermisst schmerzlich die Fähigkeit des Radios, Hörer zu über­raschen: Peter Urban, NDR‑Moderatorenlegende und bis zu diesem Jahr die „Stimme des Eurovision Song Contest“. „Manche Radiosender sagen: ‚Wir machen keine Hits, wir spielen welche‘, sagte der 75-Jährige dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Wie bitte? Das finde ich katastrophal. Diese Philosophie ist einfach falsch. Warum hören wir immer dieselben drei Hits von U2? Warum nicht mal etwas Überraschendes?“

„Sonst verliert das Radio seine Hörer“

Im Moment sei genau das Gegenteil der Fall, kritisiert Urban: „Aus einem sich ständig wiederholenden Repertoire wird mit minimalem Aufwand ein Programm gezimmert.“ Das Radio müsse „eine viel größere Repertoirebreite bieten, sonst verliert es seine Hörer“, warnt er. Und mehr noch: „Es muss aufhören, so dekadenhörig zu sein: ‚Die größten Hits der Achtziger und Neunziger‘ – was soll das? In den Neunzigern wurden Sachen gemacht, die klangen wie die Achtziger, in den Nullerjahren Sachen, die klangen wie die Siebziger. Radio muss sich öffnen und weg von diesem schlimmen Schubladendenken. Hörer stellen sich ihre Playlist nicht nach Dekaden zusammen. Das interessiert sie nicht.“

Mit unserer Kritik an der musikalischen Bräsigkeit des öffentlich-rechtlichen Radios haben wir anscheinend offene Türen eingerannt
Melanie Gollin und Martin Hommel

Ihm fehlten musikalische Instanzen, die die Flut an neuer Musik einordnen, sagte Urban. „Ich höre keine Persönlichkeiten.“ Allein bei Spotify werden täglich bis zu 100.000 Songs hochgeladen. Dort geht man inzwischen den umgekehrten Weg – und hat in den USA und Kanada „Spotify AI DJ“ getestet, eine künstliche Sprachintelligenz, die einen individuellen „Moderator“ für jeden Spotify-Hörer simuliert. Streaming will Radio werden.

Bei den Sendern, Musikern und Labeln erleben Gollin und Hommel mit ihrer Initiative „Wo ist hier der Krach?“ auf der Arbeitsebene viel Zuspruch. „Mit unserer Kritik an der musikalischen Bräsigkeit des öffentlich-rechtlichen Radios haben wir anscheinend offene Türen eingerannt“, berichten sie. Keinen Satz hätten sie zuletzt so oft gehört wie „Endlich sagt‘s mal jemand!“.

Dass aus dem Projekt reale Folgen erwachsen, ist aber längst nicht ausgemacht. NDR-Hör­funkchef Adrian Feuerbacher hält die Zeit des stark formatierten Radios bereits für über­wunden. „Es gab eine Zeit, in der das Formatradio eine große Dominanz hatte“, sagte er in einem RND-Interview. „Die Vorstellung war damals bei einigen, dass Radio möglichst wenig Störfaktoren aufweisen sollte, damit Menschen lange dranbleiben. Wie gut, dass diese Zeit schon eine Weile zurückliegt.“

„Was für ein knattergeiles Medium“

Die Macher von „Wo ist hier der Krach?“ sehen das naturgemäß anders. Aber sie teilen die Leidenschaft für das oft abgeschriebene, immer etwas stiefmütterlich betrachtete Radio. „Wir haben in den letzten Wochen so viel Radio gehört wie wahrscheinlich nie in unserem Leben und uns wieder neu verliebt“, schreiben sie auf der Homepage ihres Projekts. „Was für ein knattergeiles Medium.“ (RND)


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.