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DebatteBraucht die EU eine gemeinsame Atombombe?

Lesezeit 6 Minuten
Frankreich, Mururoa-Atoll: Nach der Explosion einer französischen Atombombe schwebt 1970 dieser riesige Atompilz über dem Mururoa-Atoll. (Archivbild)

Frankreich, Mururoa-Atoll: Nach der Explosion einer französischen Atombombe schwebt 1970 dieser riesige Atompilz über dem Mururoa-Atoll. (Archivbild)

Die neue Liebe zur Bombe: Die EU hat 450 Millionen Einwohner, einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung. Braucht sie nicht auch eine gemeinsame Atombombe? Eine deutsche Sozialdemokratin hat eine Debatte in Gang gesetzt, die altgediente Pazifisten und Wehrexperten gleichermaßen zusammenzucken lässt.

In Zeiten des Krieges zerbröseln Tabus. In Deutschland lässt dies derzeit viele frösteln. Denn plötzlich wirken auch Denk- und Sprechverbote überholt, die einer breiten Mehrheit über Jahrzehnte hinweg eigentlich immer sympathisch waren.

Erinnert sich noch jemand an den Grundsatz „Keine deutschen Waffen in Spannungsgebiete“? Der Erste, der daran mit Blick auf die Ukraine kräftig rüttelte, war Robert Habeck. Im Mai 2021, neun Monate vor dem russischen Einmarsch, brachte der damalige Grünen-Chef die Lieferung deutscher Waffen ins Gespräch. Die Äußerung ließ ihn später wie einen Seher erscheinen unter außenpolitisch Blinden.

Auf dem Weg zu einer europäischen Armee kann das ein Thema werden.
Katarina Barley, SPD-Spitzenkandidatin bei der Europawahl, auf die Frage, ob die EU eigene Atombomben braucht

Damals aber gab es für Habeck in Berlin nur Buhrufe. Pazifisten aus seiner eigenen Partei tippten sich an die Stirn. Sozialdemokraten feierten das vermeintliche Eigentor der Grünen. Sogar die Union, die damals noch die Kanzlerin stellte, ging auf Distanz. Der Konflikt im Donbass werde sich nicht militärisch lösen lassen, dozierte der für Außenpolitik zuständige stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Johann Wadephul – als habe Habeck schlicht keine Ahnung. Waffenlieferungen, belehrte der CDU-Mann den Grünen, seien „der falsche Weg“.

Wenige Monate später schwenkte die gesamte politische Mitte in Deutschland um in die von Habeck verblüffend früh vorausempfundene neue Richtung. Zu besichtigen war eine historische Wende, deren Vordenker anfangs als isolierte, fast schon blamierte Figur dastand. Doch so etwas gehört zur Normalität in der Demokratie: Die Position der Minderheit kann, wenn die Umstände sich ändern, zur Position der Mehrheit werden.

Katarina Barley (SPD), SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, spricht auf einer Bühne

Katarina Barley, SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl,

Das Beispiel legt es nahe, sich der neuen deutschen Atombombendebatte mit Bedacht zu nähern, ohne die sattsam bekannte Mischung aus Reflex und Vorurteil.

EU-Atombombe: Politischer Anstoß kommt aus unerwarteter Richtung

Auch in diesem Fall kommt der politische Anstoß aus einer unerwarteten Richtung, von einer deutschen Sozialdemokratin. Katarina Barley, Spitzenkandidatin der SPD für die Europawahl im Juni, zeigte sich in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ offen für eine europäische Atombombe: „Auf dem Weg zu einer europäischen Armee“, sagte Barley, könne das „ein Thema werden“.

Eine europäische Atommacht braucht es nicht, sie wäre das Gegenteil von europäischer Sicherheit.
Ralf Stegner, SPD-Außenpolitiker

Sofort war die Aufregung groß. Als Erstes wurde, wie im Fall Habeck, kübelweise Spott ausgegossen. Die Linkspartei höhnte, Barley habe wohl „im Karneval ein paar Kölsch zu viel getrunken”. Erneut schwang sich auch CDU-Außenpolitiker Wadephul zu harschen Urteilen auf. Barleys Äußerung, tönte er im „Spiegel“, lasse „an ihrem politischen Verstand zweifeln“.

In Wirklichkeit liegt das Hauptproblem in dem verkrampften Versuch, trotz der neuen Weltlage das Atomthema zur Seite zu schieben. Barley, bis dahin haben ihre Kritiker recht, ist keine Verteidigungsexpertin. Doch erstens ist die promovierte Juristin und frühere Bundesjustizministerin intellektuell eine aufgeräumte Frau mit weitem internationalen Horizont. Und zweitens hat sie gar keine Forderung erhoben, sondern nur einen aktuellen Zustand beschrieben – und mögliche künftige Entwicklungen.

Genau das aber geht vielen bereits zu weit. Der SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner etwa findet schon Debatten über gemeinsame europäische Atomwaffen schlimm und warnt von einer „brandgefährlichen“ Eskalation: „Eine europäische Atommacht braucht es nicht, sie wäre das Gegenteil von europäischer Sicherheit.“

Ist es nicht in Wirklichkeit umgekehrt?

Was gegenwärtig in der Ukraine geschieht, ist jedenfalls keine Werbung für atomwaffenfreie Zonen. Schweren Herzens verzichtete die Ukraine im Jahr 1994 in einem internationalen Vertrag, dem Budapester Memorandum, auf die Nuklearwaffen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion noch auf ihrem Territorium standen. Nie zuvor gab es weltweit eine so umfangreiche nukleare Abrüstung in einem so großen Gebiet. Zum Ausgleich bekam Kiew damals eine hochoffizielle Zusicherung aus Moskau, Russland werde die Ukraine niemals angreifen.

Rüstungspolitik muss über den Tag hinaus angelegt sein

Dieser Zettel war, wie sich zeigte, schon bald nichts mehr wert. Denn fünf Jahre später übernahm in Moskau anstelle des konstruktiven Boris Jelzin, der das Abkommen als russischer Präsident unterschrieben hatte, der skrupellose Wladimir Putin die Macht.

Rüstungspolitik, zumal wenn es um Atomares geht, muss weit über den Tag hinaus angelegt werden. Stimmungen und Strömungen des Augenblicks dürfen nicht entscheidend sein, erst recht nicht personelle Konstellationen.

Oft wird in den aktuellen Debatten auf die drohende Rückkehr des Nationalisten Donald Trump ins Weiße Haus verwiesen. Tatsächlich wäre dies der größte Triumph Putins nach Moskaus jahrzehntelangen mehrdimensionalen Bemühungen um eine Spaltung des Westens.

Eine europäische Atombombe aber – was immer darunter genau zu verstehen wäre – wird es bis zu Trumps möglicher Vereidigung im Januar 2025 nicht geben. Manche hantieren derzeit mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt, in dem die Atommächte Frankreich und Großbritannien eine Rolle spielen. Doch in Paris wie in London bleibt vieles umwölkt von nationalen Betrachtungsweisen. Deshalb haben neben Pazifisten auch altgediente Wehrexperten Vorbehalte gegen die europäische Bombe.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron scheint bereit zu sein, zur nuklearen Absicherung des ganzen Kontinents beizutragen. Doch was würde seine feierliche Zusage nützen, wenn die Nationalistin Marine Le Pen die Wahlen im Frühjahr 2027 gewinnt und nur Frankreich unter ihren Schirm nehmen will?

Großbritannien ist und bleibt der verlässlichste Nato-Verbündete in Europa. Doch mit Blick auf die EU rechnen die Briten spitz, und man kann ihnen das nicht verübeln. Will eine Gemeinschaft mit 27 Mitgliedsstaaten, wenn es hart auf hart kommt, auf den Rücken fallen und sich von einem Nichtmitgliedsstaat verteidigen lassen?

Die Weltgeschichte ist kein Amtsgericht.
Ehemaliger Kanzler Willy Brandt

Es geht nicht nur um Trump. So oder so müssen die 450 Millionen EU-Bürger künftig sehr viel mehr zur Verteidigung Europas beitragen als bisher – unabhängig davon, wer in diesem Jahr oder in vier Jahren in den USA die Wahl gewinnt. Diese Erkenntnis immerhin scheint sich herumzusprechen. Damit aber folgt jetzt das Umsetzungsproblem: Wie soll das alles organisiert werden?

Barley, das sagt sie selbst, hat darauf keine konkreten Antworten. Dennoch verdient sie Anerkennung. Die offene nukleare Frage in Europa endlich zum Thema zu machen, ist besser, als an dieser Stelle immer neue Denk- und Redeverbote verhängen zu wollen.

Eins zumindest steht fest: Wer in diesem historischen Moment keinen Rückfall Europas in den Nationalismus will, muss sich dem Gedanken einer europäischen Armee nähern. Hindernisse auf dem Weg dorthin gibt es viele. So müssten die teilnehmenden Staaten bei internationalen Atomverträgen ihren Austritt oder einen Wegfall der Geschäftsgrundlage erklären. Zudem braucht man eine neuartige supranationale Befehls- und Kommandostruktur, von der noch niemand weiß, wie sie aussehen könnte.

Bleibt also alles ein Hirngespinst? Kanzler Willy Brandt sagte, als er gegen viele Widerstände seine umwälzende Ostpolitik anschob: „Die Weltgeschichte ist kein Amtsgericht.“

Die EU braucht eine eigene atomare Abschreckung
Der frühere Außenminister Joschka Fischer

Entscheidend ist, dass der alte Kontinent wieder ein paar neue Ideen entwickelt. Europa ist wirtschaftlich, militärisch und technologisch durchaus in der Lage, sich mit Waffensystemen aller Art so auszurüsten, dass jeder Angriff scheitern würde. Das können defensive Laserwaffen sein, die es derzeit noch nicht gibt, Drohnen der neuesten Generation aber eben auch – für den Fall, dass zur Abschreckung das letzte Register gezogen werden muss – Atomwaffen.

Ein alter Kämpe, der sich längst aus der Politik zurückgezogen hat, ist an dieser Stelle ebenfalls als Tabubrecher unterwegs. „Die EU braucht eine eigene atomare Abschreckung“, sagt klipp und klar der frühere grüne Außenminister Joschka Fischer. Auf die Frage, ob die Europäer sich rechtzeitig zusammenraufen, verweist Fischer auf die Lernfähigkeit des Homo sapiens: „Wenn es richtig heiß wird am Allerwertesten, haben wir uns immer bewegt. Dann waren wir immer intelligent genug, Lösungen zu finden.“


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.