Die Geschichte des Rechnens beginnt nicht bei Pythagoras und führt dann zu Albert Einstein. Warum Mathematik älter, östlicher und weiblicher ist als oft gedacht, erklärt Historikerin Kate Kitagawa.
Funky Fakten„Mathematik kann mehr sein als das meistgehasste Fach in der Schule“
Frau Kitagawa, kein Fach hat mich die Schule derart fürchten lassen wie Mathe. Warum sollte ich mich trotzdem für die Geschichte dieser Wissenschaft interessieren?
Lassen Sie mich eine Metapher verwenden: Wir müssen essen und trinken, das sind Grundlagen des Lebens, um die es keinen Weg herum gibt. Auch Erkenntnis und Wissen haben solche Grundlagen, dazu zählt die Mathematik. In der Schule bekommen wir den Eindruck, es sei primär ein Fach, das man studieren kann. Doch schauen wir in die Geschichte, stellen wir fest: Mathematik begleitet uns seit unseren Anfängen. Sie ist eine Grundlage des menschlichen Daseins, die wir alle teilen. Und wenn es uns gelingt, diese Gemeinsamkeit zu betonen, diesen Grundpfeiler menschlicher Kultur, dann kann die Mathematik mehr sein als das meistgehasste Unterrichtsfach in der Schule.
Gemeinsam mit dem Wissenschaftsjournalisten Timothy Revell haben Sie das Buch „Die großen Unbekannten der Mathematik“ geschrieben. Wurde die Mathematik eigentlich erfunden oder entdeckt?
Darüber haben wir lange nachgedacht. Die Antwort ist: beides. Es gibt mathematische Erfindungen wie die Uhr in all ihren Formen. Doch es gibt Gesetzmäßigkeiten, unsichtbare Regeln, die mittels der Mathematik sichtbar gemacht und somit entdeckt werden – an vielen verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeiten.
Die ersten mathematischen Spuren tauchen vor rund 20.000 Jahren auf. Dabei spielen Knochen eine Rolle. Womit haben wir es da zu tun?
Es handelt sich um Pavianknochen aus dem heutigen Kongo, auf denen Zählungen eingraviert wurden, Striche, gruppiert nach einer Art Zahlensystem. Ähnliche Knochen wurden auch in anderen Teilen Afrikas und in Europa entdeckt. Sie zeigen: Die Mathematik begann nicht mit dem antiken Griechenland, sondern entwickelte sich Jahrtausende vorher.
Zur Person
Tomoko Lisa Kate Kitagawa, die an der Princeton University in New Jersey studiert und promoviert hat, ist Historikerin der Mathematik. Sie forschte in Großbritannien, Deutschland und Südafrika. Gemeinsam mit dem Wissenschaftsjournalisten Timothy Revell hat sie das Buch „Die großen Unbekannten der Mathematik“ (Goldmann-Verlag, Deutsch von Nastasja S. Dresler, 400 Seiten, 24 Euro) geschrieben.
Bilden die Artefakte die gemeinsame Quelle der Mathematik?
Mathematik ist ein globales Phänomen. Sie tritt in den verschiedensten Kulturen auf, es findet ein Austausch der Ideen statt, oft durch Handel und Politik. Eine besondere Rolle spielen die Übersetzer, die dazu beitragen, mathematisches Denken von einer Kultur in eine andere zu überführen. Die Mathematik trat nie isoliert auf, sondern stets in Verbindung mit anderen kulturellen Aspekten. Im alten China und bei den Maya stand die Rechenkunst in engem Bezug zum Göttlichen.
Mathematik ist ein Prozess der Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Dadurch hat es etwas Magisches, man könnte auch sagen, es hat eine religiöse Kraft. Eine Kraft, die unsere Wahrnehmung verändert. Diese Macht hat Menschen immer mit Ehrfurcht erfüllt, weshalb zum Beispiel der antike Mathematiker und Philosoph Pythagoras die Zahlen als göttlich verehrte.
Und doch sind Mathematiker wie Kopernikus, Galilei und Newton mit religiösen Autoritäten aneinandergeraten.
Auch Galilei machte das Unsichtbare mit seinem Teleskop sichtbar. Er glaubte, dass das Teleskop ihm die Welt wahrheitsgemäß widerspiegelte, etwas, wovon die Kirche nicht überzeugt war. Ebenso sah Newton die Gravitation am Werk, wenn ein Gegenstand nach unten fiel, was damals keineswegs die einzige Deutungsmöglichkeit war. Es gibt eine Zeitverschiebung zwischen wissenschaftlicher Beobachtung und der Anerkennung durch das Establishment.
Eine der bemerkenswertesten Mathematikerinnen der Antike ist Hypatia. Wer war sie?
Hypatia lebte vor rund 1600 Jahren in Alexandria und galt lange als erste Mathematikerin. Erweitert man den geografischen Rahmen, muss man frühere Denkerinnen nennen, wie die chinesische Historikerin und Mathematikerin Ban Zhao, die vor fast 2000 Jahren lebte. Richtig ist, Hypatia war eine sehr fähige Wissenschaftlerin, theoretisch wie praktisch. So war sie in der Lage, ein Astrolabium zu konstruieren, ein Gerät zur Vorhersage der Positionen von Planeten und Sternen. Das brachte aber nicht nur Verehrer mit sich: Historische Quellen sind voll von Diskriminierung ihr gegenüber.
Eine Verachtung, die zu ihrer Ermordung führte?
Ja, das ist der erschreckendste Teil ihrer Geschichte.
Im 17. und 18. Jahrhundert sind es vor allem die Französin Émilie du Châtelet, die Italienerin Laura Bassi und Elisabeth von der Pfalz, die wichtige Beiträge zur Mathematik lieferten. Worin bestanden diese?
Laura Bassi war die erste Physikprofessorin, eine der ersten Frauen, die es in den wissenschaftlichen Mainstream geschafft haben. Ähnlich Émilie du Châtelet: Zunächst veröffentlichte sie anonym, bis ihr Name doch publik wurde. Sie übersetzte Newton ins Französische und machte seine Lehre zugänglich. Das größte Vermächtnis dieser Frauen war aber: Sie gaben nicht auf. Noch Jahrhunderte später erhielten weibliche Wissenschaftler nicht die Anerkennung, die ihnen zustand. Im 20. Jahrhundert schaffte es die deutsche Mathematikerin Emmy Noether (1882–1935) auf den Posten einer „nicht beamteten außerordentlichen Professur“. Das Amt einer ordentlichen Professorin erhielt sie jedoch aufgrund ihres Geschlechtes nicht.
Viele wesentliche Aspekte der Mathematik entstammen nicht dem europäischen Studierzimmer, zum Beispiel die Zahlen. Woher kommen die eigentlich?
Die Zahlen, die wir heute nutzen, haben ihren Ursprung in den Systemen indischer Mathematiker. Deren Schriften wurden von arabischen Gelehrten wie al-Chwarizmi studiert und übersetzt. Diese Abhandlungen wurden wiederum ins Lateinische überführt, sodass es schließlich auch europäische Gelehrte erreichte. Mit der Zeit merkten sie, dass das indoarabische System viele mathematische Operationen erleichtert. So vertrieb es die römischen Ziffern.
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