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Kommentar

Hurra, wir kleben noch!
Im Beschriftungstunnel: Über die Lust an der Ordnung im Kleinen

Ein Kommentar von
Lesezeit 3 Minuten
Illustration: Gläser und Etiketten

„Ich bin im Beschriftungstunnel. Kleben und kleben lassen.“

Ich habe eine elektrische Etikettiermaschine erworben. Nichts im Haushalt ist mehr vor dem Beschriften sicher, Es ist der Versuch, wenigstens in meinem kleinen Zuständigkeitsbereich der Komplexität der Gegenwart Herr zu werden. Hurra, wir kleben noch!

Ein untrügliches Indiz für meine fortschreitende emotionale Überforderung ist ein plötzlich entflammtes Interesse für das Etikettierwesen. Ich habe eine elektrische Etikettiermaschine erworben. Seither muss ich mit Mühe davon abgehalten werden, in unserem Haus sämtliche Kisten, Schubladen, Treppenstufen, Wurstscheiben, Haustiere und Mitbewohner zu beschriften. Es ist der Versuch, wenigstens in meinem kleinen Zuständigkeitsbereich der Komplexität der Gegenwart Herr zu werden. Hurra, wir kleben noch!

Der bisherige Tiefpunkt war die Etikettiermaschine selbst, die ich sorgsam mit dem Label „Etikettiermaschine“ versah.
Imre Grimm

Meine Familie versucht, mich zu bremsen. Aber du stoppst keinen Mann auf einer Mission. Ich bin im Beschriftungstunnel. Kleben und kleben lassen. Es mag ein auswegloses Unterfangen sein, System in ein Arbeitszimmer bringen zu wollen, dessen Schubladen allesamt am präzisesten mit dem Etikett „Dies & das“ beschriftet wären. Der bisherige Tiefpunkt war die Etikettiermaschine selbst, die ich sorgsam mit dem Label „Etikettiermaschine“ versah. No shit, Sherlock!? Aber wie sagte Nelson Mandela? „Unser größter Ruhm ist nicht, niemals zu fallen, sondern jedes Mal wieder aufzustehen.“ Also etikettiere ich im Geiste Mandelas beharrlich um mich.

In der Welt der Etikettiererei galt lange eine manuelle Prägemaschine mit Buchstabenrad als Nonplusultra. Diese Zeiten sind vorbei. Moderne Thermodruck-Etiketten werden per App gestaltet und sind unempfindlich gegenüber Wasser, Licht, Abrieb und Temperaturen von minus 80 Grad bis plus 150 Grad. Ich könnte also auch in der Antarktis oder auf dem Mond etikettieren.

Ohne Zweifel hätte der arme Robert Scott 1912 auf dem Rückweg vom Südpol überlebt, wenn er seine Vorratslager mit meiner Etikettiermaschine ordnungsgemäß beschriftet hätte. Auf dem Mond würde ich sämtliche Schalter und Schubladen der Mondlandefähre beschriften, von A wie „Auslöser Ausstiegsluke“ über K wie „Kekse & Kuscheltiere“ bis Z wie „Zwischenmahlzeiten“ (möglicherweise habe ich falsche Vorstellungen von der Ausstattung einer Mondfähre).

Crunchtime des Lebens

Wir befinden uns in der sogenannten Crunchtime des Lebens: Die Kinder sind noch nicht aus dem Gröbsten raus, und die Alten werden allmählich klapprig. Das bedeutet für uns: Irgendwas ist immer. Da hilft es schon, wenn man wenigstens Kneifzangen oder Kerzen nicht ewig suchen muss. Denn wir wissen: Ein aufgeräumtes Zimmer ist Spiegel einer aufgeräumten Seele. Ich mag es, wenn meine Seele hübsch sortiert ist wie ein niedersächsischer Recyclinghof und nicht aussieht wie eine wilde Müllkippe an der Bundesstraße.

Das einzige Problem ist, dass Frauen und Männer unter „Ordnung“ nicht immer dasselbe verstehen. Grob gesagt: Frauen sortieren nach Farben, Männer nach Funktion. Sortiermischsysteme enden für beide im Chaos.

Eine Socke zum Beispiel, die auf dem Fußboden liegt, kann für einen Kerl aus absolut nachvollziehbaren Gründen im Kontext eines größeren, präzise durchdachten Ordnungssystems aus genau den richtigen Gründen an genau dieser Stelle liegen („Die Socke liegt da, weil ich dann weiß, wo ich suchen muss, wenn ich eine verliere“ – „Wer verliert denn EINE SOCKE? Räum die weg!“ – „Hilft es vielleicht, wenn ich sie etikettiere?“). Schönes Wochenende!


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.