Achim Reichel, gerade 80 geworden, geht im März auf große Abschiedstour. Auch in Köln. Es ist bereits die dritte. Doch er klingt nicht nach jemandem, von dem man nie wieder hören wird.
InterviewUnd was kommt nach dem letzten Konzert, Achim Reichel?
Herr Reichel, Sie hatten ja gerade Geburtstag. Wie geht es Ihnen mit der 80?
Achim Reichel: Gut. Ich habe nur manchmal das Gefühl, als wenn die Jahre für mich eine andere Maßeinheit sind als für manch anderen. Die Zahl 80 macht mich aber schon ein bisschen nachdenklich. Weil ich irgendwie das Gefühl habe, ich fühle mich gar nicht so, wie ich dachte, dass ich mich als 80-Jähriger fühlen müsste. Insofern ist 80 für mich auch kein Grund zu hadern.
Vor gut einem Jahr ist mit Jerry Lee Lewis der letzte große Musiker der frühen Rock-‚n‘-Roll-Ära gestorben. Macht einen das nachdenklich, wenn man die Musikwelt der Fünfzigerjahre, die auch Ihre Musik zeitweilig stark beeinflusst hat, untergehen sieht?
Ja. Schon. Wobei sich das mit dem Untergang im Moment gar nicht nur auf einzelne Menschengruppen oder -szenen bezieht. Irgendwie hat man den Eindruck, als wenn da gerade ein bisschen mehr untergehen würde. Trotzdem lehne ich es ab, mich von Trübsinn und Traurigkeit bestimmen zu lassen. Denn ich habe allen Grund, mit dem, was ich in mehr als 60 Jahren als Musikus auf die Reihe gekriegt habe, ein bisschen stolz drauf zu sein.
Sie haben in den frühen Sechzigerjahren in den Hamburger Clubs angefangen. Wie schauen Sie heute auf die Popmusik?
Was daraus geworden ist, finde ich nicht alles gut. Diese Musik ist in Clubs entstanden und gehört für meinen Geschmack nicht ins Stadion, dort wird es zu Kirmes, zu Zirkus. Viele Kollegen betrachten solche Riesenshows ja als eine Trophäe. Für mich ist das schamloses Geldverdienen.
In digitalen Zeiten sind Konzerte die Rettung für viele Künstler.
Ja, die goldenen Jahre der Tonträger sind vorbei, ob das nun Vinyl ist oder die CD. Alle sind heute am Streamen. Und da gibt es keine Kontrollmöglichkeit mehr. Da kannst du nicht sagen: „Liebe Plattenfirma, wie hoch ist die Erstauflage – 20?000 Stück?“ Und dir dann mit der Rechenmaschine deine Beteiligung ausrechnen. Was auf der nächsten Lizenzabrechnung auftaucht, weiß man heute überhaupt nicht mehr. Spotify zahlt anders als Apple Music, Youtube auch wieder anders – und es sind Minimalbeträge, die gezahlt werden. Und insofern ist live wieder attraktiver geworden. Bei mir gab es noch Jahre, da bin ich überhaupt nicht aufgetreten, weil ich dachte: „Mein Gott, deine Platten laufen so gut – das muss gar nicht sein.“
Ich hätte Sie für jemanden gehalten, den man anketten muss, wenn er ein halbes Jahr nicht auf der Bühne steht.
So war es auch mal, es hat sich da aber schon ein bisschen was verändert. Aber meine Frau liebt das und sagt: „Da sind wir jeden Tag in einer anderen Stadt, und dann gehen wir da ein bisschen durch die Straßen, und du hast jeden Tag neues Publikum – die kommen nur wegen dir, die wollen deine Musik hören.“
Und dann ziehen Sie doch wieder los?
Natürlich ist das wirklich ein tolles Gefühl, vor solchen Leuten zu spielen. Die dabei geblieben sind und die auch meine Unstetheit lieben: Da waren die englischsprachigen Rattles der Beat-Ära am Anfang, dann die psychedelische Band Wonderland, dann – huch! – die avantgardistischen A. R. & Machines und ihre „Grüne Reise“. Dann macht er Shantys, singt alte Balladen, textet selbst, vertont Dichter, wendet sich Volksliedern zu. Es war tolldreist genug, das alles einfach zu tun. Dabei auch noch Erfolg zu haben – das ist für mich wie ein Geschenk des Himmels.
Jetzt ist Ihr „Abschiedskonzert“ auf Tonträger erschienen. Im März gehen Sie auf „Abschiedstour“. Die Abfolge klingt seltsam.
Ja, das lässt sich insofern erklären, als dass 2019 die Tour „Das Beste zum Schluss“ eigentlich meine Abschiedstour werden sollte. Die war so erfolgreich, dass Tourveranstalter Karsten Jahnke sagte: „Achim, das gehört sich nicht, die Hände jetzt in den Schoß zu legen.“ Also planten wir noch eine Abschiedstour, die aber zweimal durch Corona weggefegt wurde. Bei der 2019er-Tour war ich erstmals mit Bläsern am Start. Und plötzlich klangen alle Stücke endlich, als wenn die unter einen Hut passen würden, als wenn die überhaupt nicht aus verschiedenen Jahrzehnten stammten. Alles klang enorm beieinander und stimmig, und die Leute standen in Scharen am Merchandising-Stand. Der arme Kerl dort sagte, die Lieder seien alle auf der „Best of“-Platte. Aber die Leute wollten die Bläserversionen. Und die gab es nicht. Dann haben wir angefangen, die Konzerte mitzuschneiden. Lange Rede, kurzer Sinn: Die zweite Abschiedstour fand 2023 im Frühjahr statt. Und am Ende hatte ich 30 Konzerte mitgeschnitten.
Ihr Abschiedslied ist Hildegard Knefs „Aber schön war es doch“. Haben Sie auch das Gefühl, dass die Zeit vorbeiging – wie es im Text heißt – „wie Filme auf der Leinwand“?
So im Nachhinein schon. Und wenn ich alte Fernsehauftritte sehe, kratze ich mich manchmal am Kopf und denke: „Alter, wie warst du drauf?“ Früher war man schon mal aufgedreht bis überdreht. Gilt auch für meine Art des Gesangs. Ich habe das neue Album neulich einem guten Freund von mir zum Hören gegeben, da sagt er: „So, wie du da singst, hättest du mal gleich von Anfang an singen sollen.“ Ich sage: „Da war ich aber noch lange nicht so reif.“ Daran merkt man dann, irgendwie geht es immer weiter.
Beat, Krautrock, Seemannslieder
Zumindest im deutschen Norden reicht der blanke Vorname. Achim Reichel ist und bleibt „Achim“. Geboren wurde er am 28. Januar 1944 in eine Seefahrerfamile in Wentorf bei Hamburg. Seine Karriere bei den Rattles, die er Ende 1960 gegründet hatte und die als „die deutschen Beatles“ galten (und auf Tournee auch Support für die Beatles und die Rolling Stones waren), beendete die Einberufung zur Bundeswehr.
Danach stellte Reichel mit Wonderland eine Hamburger All-Star-Band mit psychedelischem Sound zusammen und begab sich 1970 mit dem Projekt A. R. & Machines in die unendlichen Weiten der Rock-Avantgarde. Sein Album „Grüne Reise“ (1971) wird heute international zu den großen Werken des Krautrock gerechnet. 1976 begann er mit „Dat Shanty Alb’m“ eine Reihe von Alben, die sich Seemannsliedern, Balladen, Volksliedern und Vertonungen von Gedichten aus mehreren Jahrhunderten widmeten. Ab 1979 begann er selbst, Songs in deutscher Sprache zu schreiben. 1991 wurde die Seefahrtfantasy „Aloha Heja He“ sein größter Hit., 30 Jahre später landete der Song auf Platz eins der Shazam-Charts in China.
Der Musiker wohnt in Hamburg-Hummelsbüttel, ist verheiratet und hat zwei Töchter aus zwei Ehen.
Auf seiner Abschiedstour spielt er unter anderem am 9. März in Kiel, am 14. März in Hamburg, am 17. März in Braunschweig, am 25. März in Lübeck, am 30. März in Hannover und am 31. März in Köln.
Und was kommt nach dem letzten Konzert?
Ich könnte mir vorstellen, dass mein Schädel mir immer wieder Ideen einflüstern will. Ich werde mich mal zurücklehnen und in mich hineinhorchen, was da noch raus will. Nachdem meine Autobiografie „Ich hab das Paradies gesehen“ 2020 zum „Spiegel“-Bestseller wurde, sagte mir mein Verlag: „Herr Reichel, Sie machen doch weiter, oder?“ Ich sagte: „Aber das Buch ist doch jetzt veröffentlicht.“ „Ja, ja“, sagten die, „aber Sie können schreiben, das ist ein Talent, da müssen Sie doch was mit anfangen.“ Ja (lacht), und das könnte passieren.
Und Musikmachen im Studio?
Die Beatles haben auch aufgehört aufzutreten, und haben dann noch Studioalben herausgebracht. Ich bin zwar der Meinung, das Ehrlichste, was es überhaupt gibt für einen Musiker, ist, vor seinem Publikum zu stehen. Bei der Arbeit im Studio kommt aber noch etwas ganz anderes hinzu, weil man dort mit der Technik herumtricksen kann. Aber schauen wir doch mal – ich bin ja nicht an einem Punkt, wo ich denke: „Oh Gott, hoffentlich kriegst du das nächstes Jahr noch hin!“
Wahrscheinlich bekommen Sie ja schon durch „Aloha Heja He“ einiges an Tantiemen.
Da haben Sie völlig recht. Das Ding ist weltweit über eine Milliarde Mal aufgerufen worden – eine völlig verrückte Zahl. Und als das in China bei Tiktok durch die Decke ging, dachte ich: „Wer hat denn da am Rad gedreht?“ Da verdient man doch tatsächlich einen Haufen Geld und hat nicht einen Finger dafür gerührt.
Ihre Rattles waren in den Sechzigerjahren mit den Rolling Stones und den Beatles auf Tour. Was sagen Sie zu den neuen Sachen dieser Bands?
„Now and Then“ von den Beatles lag in der Schublade und war ja nur möglich, weil es mittlerweile Musikprogramme oder KI gibt, mit der man bei einem Kassettendemo die Stimme vom Klavier trennen kann. Und dann wurde das Ganze „aufgefüllt“. Das ist ein Spielchen, der Song ist gehobener Standard, ganz nett, aber kein „Boah ey!“-Stück. Die Rolling Stones sind ein anderes Thema. „Angry“ hörte ich das erste Mal beim Frühstück im Radio. Meine Frau sagte: „Das sind die Stones.“ Ich: „Glaub ich nicht.“ Sie hatte dann recht, und ich dachte: „Ja aber die Stimme von Mick Jagger klingt plötzlich so frisch.“ Fragwürdig fand ich das Stones-Video. Mein Gott, immer noch knapp bekleidete junge Frauen im Cabrio? Hallo! Aufwachen!
Manche Musiker nutzen KI auch beim Songwriting. Käme Künstliche Intelligenz auch für Sie als Co-Autor infrage?
Bei Songs nicht. Denkbar wäre es für mich im Zusammenhang bei den Sounds von A. R. & Machines. Ich habe hier einen Nachbarn, der schon in den Neunzigerjahren mit dem Thema KI promoviert hat. Der sagte: „Wenn du da was wissen willst, kann ich dir gerne helfen.“ Er ist die meiste Zeit in Kanada, hat mir aber irgendwann von dort einen Text zu „Aloha“ geschickt. Eingegeben hatte er „Schreibe mir den Song von Achim Reichel – umgemünzt auf die Stadt Hamburg“. Das Ganze war – wie soll ich sagen – eher ein Reklametext vom Fremdenverkehrsverband: Und die Reeperbahn und der Hafen und die Große Freiheit und blablabla. Und ich dachte: Okay, also dafür braucht kein Mensch KI. Für mich braucht Musik Gemüt, ein schwankendes Moment. Und ich werde gerne überrascht, und ich weiß gar nicht, ob man das mit KI hinkriegt.
Wenn Sie Ihre 64 Jahre Musikkarriere unter ein Wort stellen müssten – wäre es eine Entdeckerreise?
Meine ganze Karriere war ein einziger Selbsterfahrungstrip. Es war eine Suche nach Identität. Ich bin ein Kind der Nachkriegszeit, bin ohne Vater aufgewachsen. Mir fehlte es an Vorbildern. Auch die Musik hierzulande hatte keine Vorbildfunktion: Mit Schlager wollte man die Menschen nach dem Krieg eigentlich nur trösten und ablenken. Man hat zwanghaft auf gute Laune gemacht, und das ist überhaupt nicht mein Ding. Für mich war es eine Suche nach Identität, ich wollte auch anknüpfen an die eine oder andere Tradition, die es hierzulande mal gab. Ob das nun die Sturm-und-Drang-Zeit war mit ihren Dichtern und Denkern, oder ob es alte Volkslieder waren und Balladen. All das war mir viel zu schade, um vergessen zu werden, nur weil wir mal Bestien waren.
Sie meinen mit den Bestien die NS-Zeit?
Genau. Es war mir wichtig, den Leuten nicht nur Zerstreuung zu geben, sondern auch Gehaltvolles. Altes in ein anderes Licht rücken, es anders zu „inszenieren“, so wie man auch alte Theaterstücke oder Opern modernisiert.
Zurzeit gewinnen ultrarechte Kräfte wieder Boden in Deutschland. Aber jetzt stehen auch Hunderttausende dagegen auf und demonstrieren.
Gott sei Dank sind sie auf die Straße gegangen. Die AfD ist hintertrieben, in diesen Zeiten damit anzukommen, Leute ausweisen zu wollen, und zu behaupten, dass die sich auf Kosten der Gemeinschaft die Zähne machen lassen oder nur Geld abholen, ohne an der Gesellschaft mitarbeiten zu wollen. Und man kennt diese Leute auch, die matt in der Birne sind und die dann „finde ich auch!“ und „genau!“ schreien. Aber das ist kein Weg, das ist so was von klar – wir leben in einer globalisierten Zeit.
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