Streit über klimaschädliches Verhalten und Falschparken ist in Deutschland keine Seltenheit. Moralismus-Forscher Cord Schmelzle erklärt, warum sich Menschen nicht gern belehren lassen – und dennoch davon profitieren
InterviewWie man über Moral diskutiert, ohne zu belehren
Herr Schmelzle, den Deutschen wird oft nachgesagt, dass sie andere gern belehren. Sind wir wirklich ein Land der Moralistinnen und Moralisten?
Cord Schmelzle: Ich beobachte auf jeden Fall eine Zunahme von moralischen Argumenten, moralischen Vorwürfen und moralischer Kritik in den vergangenen Jahren. Ob das eine Entwicklung ist, die spezifisch auf Deutschland zutrifft oder aber auch in anderen westlichen Demokratien stattfindet, kann ich nicht sagen. Gegen die These einer deutschen Marotte spricht, dass viele dieser Diskurse ursprünglich aus den USA kommen: Denken Sie zum Beispiel an Cancel Culture oder Political Correctness.
Wie erklären Sie sich, dass der Moralismus in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat?
Dafür habe ich verschiedene Erklärungsansätze. Ein Grund könnte sein, dass sich der gesellschaftliche Konsens in vielen Themen auseinanderentwickelt hat. Seit mehreren Jahren haben unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen grundlegend unterschiedliche Auffassungen zu großen Diskussionen – etwa zu Genderfragen oder zum Umgang mit Geflüchteten. Ich habe außerdem den Eindruck, dass immer mehr Menschen bei Themen wie Klimaschutz der Meinung sind, dass wir uns nicht darauf verlassen können, dass der Staat das schon regeln wird. Folglich versuchen Menschen, die diese Ansicht vertreten, auch andere dazu zu bewegen, sich aktiv für den Klimaschutz einzusetzen.
Mitunter geht es in moralischen Konflikten um fundamentale Themen. Oft aber auch um vermeintliche Bagatellen: Manche belehren ihre Nachbarin, weil sie sonntags den Rasen mäht, andere prangern Falschparker an – ein Beispiel ist der „Anzeigenhauptmeister“ Niclas M. Warum haben manche Menschen ein Bedürfnis, zu belehren?
Wahrscheinlich kommen hierbei zwei psychologische Bedürfnisse zusammen: Anerkennung und Dominanz. Wer andere belehrt, will vielleicht der Öffentlichkeit eine besondere Tugendhaftigkeit signalisieren und erhofft sich Anerkennung. Das Bedürfnis nach Dominanz wird dadurch befriedigt, indem man andere tadelt, die gegen moralische Normen verstoßen. Viele Menschen scheinen gerade in den Zeiten ein Bedürfnis danach zu haben, in denen sie wenig Selbstwirksamkeit erfahren.
Also kann man mit Moralismus eigene Probleme kompensieren?
Das ist eine Erklärung. In den Krisen der vergangenen Jahre habe viele Menschen das Gefühl verloren, Herrin oder Herr des eigenen Lebens zu sein. Die Äußerung moralischer Kritik – gerade in den sozialen Medien – kann dieses Ohnmachtsgefühl lindern. Es ist ein Wunsch nach Kontrolle, der auf dem Rücken von anderen ausgetragen wird.
Und die sind meist überhaupt nicht erfreut. Der „Anzeigenhauptmeister“ wird mit Hass überschüttet – und die Nachbarin reagiert auch nicht immer verständnisvoll. Warum werden wir nicht gern belehrt?
Weil moralische Belehrungen schmerzhaft sind. Es geht dabei selten um eine spezifische Kritik – also etwa, dass eine Redakteurin etwas falsch zitiert hat. Moralische Kritik richtet sich gegen die Person insgesamt: Wenn ich sie moralisch kritisiere, ist die Redakteurin nicht nur eine schlechte Journalistin, sondern ein schlechter Mensch. Wenn ich das Gefühl habe, jemand prangert mich an, weil ich gegen moralische Normen verstoßen habe, erlebe ich das also oft als Kränkung.
Ist es also schädlich, wenn man andere belehrt?
Nein, allgemein nicht. Moral ist ein Weg, soziale Normen einzuhalten. Manche Menschen argumentieren, dass Moralismus negative Auswirkungen auf unsere Gesellschaft hat. Social Media und Cancel Culture werden zum Beispiel oft als Mittel verstanden, andere Menschen moralisch zu beschämen. Aber in der Gesamtperspektive kann es vorteilhaft sein, wenn wir moralische Diskurse führen.
Inwiefern?
Weil dadurch Normen durchgesetzt werden können, die davor nicht durchgesetzt werden konnten. Sexistische Witze waren früher viel gängiger. Inzwischen wissen viele Menschen, dass sie mit Kritik zu rechnen haben, wenn sie solche Witze reißen. Moralische Kritik tut weh, aber das ist kein Grund, sie nicht zu äußern.
Kann es aber nicht auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohen, wenn sich Menschen ständig gegenseitig belehren?
In manchen Fällen kann moralisiertes Sprechen unerwünschte Folgen haben. Eine Zunahme von moralischer Kritik zwischen politischen Lagern kann dazu führen, dass sich Polarisierung verstärkt. Das bedeutet nicht nur, dass man unterschiedlicher Meinung ist – sondern auch, dass man die Meinung anderer als minderwertig betrachtet. Es wäre aber zu einfach, deswegen von moralischer Kritik Abstand zu nehmen. Sie ist wichtig.
Über welche Themen müssen wir moralisch diskutieren?
Denken Sie an unterdrückte Gruppen, die Ungerechtigkeiten erleiden. Ein gesellschaftlicher Zusammenhalt, der darauf aufbaut, dass unterdrückte Gruppen ihre Klappe halten, scheint mir keinen Wert zu haben. Es ist wichtig, dass diese Gruppen moralische Diskussionen anregen. Dadurch kann sich etwas ändern.
Wie können wir es schaffen, dass moralische Diskussionen nicht ausarten?
Moralische Kritik sollte immer konkret sein. Denn so geht es um eine Sache und nicht um Kritik an einem Menschen oder einer Gruppe. Was ich häufig beobachte, ist, dass die einen etwa über Klimaschutz sprechen möchten, die anderen aber schreien: „Es wird nur noch die Moralkeule geschwungen.“ So kommen wir nie zu einer Lösung.
Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.