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Kommentar

Liebeserklärung an Kölner Zirkus
Eskapismus im Zirkuszelt – Roncalli, mon amour

Ein Kommentar von
Lesezeit 3 Minuten
Illustration: Ein Zirkuszelt unter einem Sternenhimmel.

Roncallis Poesie hat unseren Autor als Kind so verzaubert, dass ihm die echte Welt entbehrlich schien.

Man sagt ja, das Kind in dir müsse Heimat finden. Ich sage: Das Kind in mir muss Pommes haben und Konfetti im Haar. Und mit Lili Roncalli Walzer tanzen.

Zu den größten Vergnügungen, mit denen ich gelegentlich mein karges Leben aufmöble, gehört der Zirkusbesuch – und zwar im geschlossenen Familienverbund. Es gibt nichts Besseres, um unsere von digitaler Ersatzzerstreuung abgestumpften Seelen durch reales Erleben aufzufrischen, als die multisinnliche Teilhabe an einem mit Liebe gemachten Zirkus.

Und ich meine damit nicht jene traurigen Vorstadtparkplatz-Ödnisse von staubigen Direktoren in tropfenden Zelten, die zwei Zottelponys durch die Manege schicken und statt von Begeisterung und Treue von Mitleid und den Sachspenden umliegender Bauern leben. Ich meine natürlich Roncalli.

Die Premiere des Roncalli-Programms „All for ART for all“ in Köln im April 2022 (Archivbild)

Die Premiere des Roncalli-Programms „All for ART for all“ in Köln im April 2022 (Archivbild)

Man sagt ja, das Kind in dir müsse Heimat finden. Ich kann für mich sagen: Das Kind in mir muss Pommes haben. Und Konfetti im Haar. Und Sägemehl riechen. Und mit Lili Roncalli Walzer tanzen.

Roncalli ist als Zirkus wie ich als Mensch: eine nostalgisch-optimistische, nur teilweise zeitgemäße Mischung aus sentimentaler Sehnsucht nach gestern, Liebe zum Entertainment und bunt beleuchteter Weltflucht
Imre Grimm

Roncalli ist als Zirkus wie ich als Mensch: eine nostalgisch-optimistische, nur teilweise zeitgemäße Mischung aus sentimentaler Sehnsucht nach gestern, Liebe zum Entertainment und bunt beleuchteter Weltflucht. Sie haben die Löwen abgeschafft. Und die Pferde. Und alle anderen Tiere. Aber nicht die Liebe. (Den Weißclown, den alten Streber, haben sie behalten, wegen der Tradition und so. Dabei ist der gar mal so nicht lustig.)

Als ich ungefähr acht Jahre alt war, habe ich Roncalli-Gründer Bernhard Paul ein Bild gemalt. Roncalli ist zwei Jahre jünger als ich, war damals also ungefähr sechs. Und „Die Reise zum Regenbogen“ mit dem magischen Seifenblasen-Clown Pic („Hoppala!“) war das erste echte Erfolgsprogramm der Roncalli-Historie. Seine Poesie hatte mich so verzaubert, dass mir die echte Welt entbehrlich schien. Roncalli, mon amour.

Meine Eltern waren so klug, tagsüber mit mir zum Zirkus zu fahren, damit ich Bernhard Paul mein Bild persönlich backstage übergeben konnte. Ich weiß nicht mehr, was ich gemalt hatte, wahrscheinlich irgendwelche Kleckse. Ich habe aber noch Bernhard Pauls warmen, österreichischen Singsang im Ohr, mit dem er sich bedankte. Seither bin ich ein Zirkuskind. Obwohl ich nichts kann, was im Zirkus von Nutzen wäre. Oder auch außerhalb des Zirkus.

Es ist der Truppe noch nie gelungen, mich nachhaltig zu enttäuschen
Imre Grimm

Die meisten Vergnügungen der Kindheit verlieren im Alter an Reiz, weil mit der lästigen Reifung die Entzauberung einhergeht. Das ist der Preis des Lernens. Es ist das Weihnachtsmann-Phänomen. Du weißt: Da ist eine Frau in dem auffällig dicken Boden von dem Vehikel da. Nicht so bei Roncalli. Bei Roncalli werde ich immer acht Jahre alt sein und denken: HÄH? WO KOMMT JETZT PLÖTZLICH DIE FRAU HER? WAHNSINN!!!

Roncalli ist wie ein golden leuchtender Organismus, in dessen Arme ich mich sinken lassen kann, um für drei Stunden der Welt zu entkommen. Es ist der Truppe noch nie gelungen, mich nachhaltig zu enttäuschen. Beim letzten Mal allerdings fehlte etwas. Der Walzer mit dem Publikum, ganz am Ende der Show, fiel aus. Das geht so natürlich nicht. Lili Roncalli, du schuldest mir einen Tanz.

Schönes Wochenende!


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.